Tauchsieder

Die Putin-Ideologie

Seite 2/2

Putin bewegt sich strikt innerhalb seines eigenen Rationals

Dugin seinerseits hat nicht nur Oswald Spengler und Arnold Toynbee, sondern auch Ivan Ilyin (1883 - 1954) viel zu verdanken, dessen sterbliche Überreste Putin 2005 nach Moskau überführen ließ, um seinem intellektuellen Leitstern nahe zu sein. Ilyin hat 1942 ein Buch über das „Wesen und Eigenart der russischen Kultur“ verfasst, in dem er die „Geschichte“ als russische Elementartatsache und „Urphänomen“ ausweist - und Putin gewissermaßen ins Stammbuch schreibt, einen selektiven Gebrauch von ihr zu machen: „Ich lege großen Wert auf die Tatsachen, jedoch nicht auf alle“, schreibt Ilyin; ihm geht es allein um „die Grundtendenzen der Volksentwicklung“, die „Hauprobleme des Volkslebens“, das „Große und Ganze der Volksgeschichte“ - oder um es mit dem ehemaligen russischen Kulturminister Wladmir Melinski zu sagen: „Es sollen hundert Blumen blühen, aber wir gießen nur diejenigen, die uns nützlich sind.“

Ilyin hat 1938 auch eine Art Verfassung für einen postkommunistischen Staat skizziert, „der Putins Vorstellungen recht nahe kommt“, schreibt der Schweizer Slawist Ulrich Schmid in seinem erhellenden Buch über das „Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“ aus dem Jahr 2015. In Artikel elf von Ilyins „Grundgesetz“ heißt es: „Der russische Staat bindet alle seine Bürger durch eine einheitliche patriotische Solidarität zusammen; durch ein gemeinsames Vaterland, ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Herrschaft…“ Von da aus ist es nicht weit zu Putins Rede vor der Föderationsversammlung am 4. Dezember 2014.

Damals erteilte er der Annexion der Krim, im Beisein kirchlicher Würdenträger,  den säkularreligiösen Segen des gottbegnadeten Herrschers: „Die Krim hat eine große zivilisatorische und sakrale Bedeutung“ für Russland, so Putin, „jetzt und für immer, so wie der Tempelberg in Jerusalem für die, die sich zum Islam oder zum Judentum bekennen“. Und weiter: „Russland hat gezeigt, dass es fähig ist, seine Landsleute zu verteidigen und ehrenvoll Wahrheit und Gerechtigkeit durchzusetzen… Wir haben uns die Kontinuität und die innere Ganzheit des Tausendjährigen Weges unseres Vaterlandes bewusst gemacht. Und wir glauben an uns. Daran, dass wir viel können und alles erreichen.“

Lesen Sie auch: So kann Putin über Nacht die Laptop-Lieferungen nach Europa kappen

Wie wirkmächtig Putins geschichtsphilosophisch sakralisierte „Rus“-Idee ist, mag man auch daran erkennen, dass Alexej Nawalny im Oktober 2014 bekannte: Auch er werde die Krim nicht an die Ukraine zurückgeben, sollte er einmal  Präsident des Landes werden. Man sieht: Putin ist nicht etwa plötzlich irre geworden. Sondern er bewegt sich nach wie vor strikt innerhalb seines eigenen, irrationalen Rationals - übrigens sogar, was die ukrainischen „Nazis“ in Kiew betrifft, die bereits im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen kollaboriert hätten und von den Russen gerettet werden mussten. „Eigentlich hat der Krieg gegen die ‚Faschisten‘ aus dem Westen, die von den verblendeten Ukrainern unterstützt wurden, nie aufgehört“ - so liest Ulrich Schmid die Botschaft eines populären russischen Spielfilmes, in der ein ukrainischer Soldat geläutert von einer Zeitreise nach 1944 zurückkehrt und seiner Russenfeindschaft abschwört („My iz budushchego 2“). Die Suggestion des Streifens, so Schmid: „Russland hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, sich auch heute gegen solche Angriffe zur Wehr zu setzen.“

Viel näher liegt also die Vermutung, dass Putin in der vergangenen zehn Tagen das Opfer seiner Autopropaganda, seiner sakralisierten Geschichtsphilosophie, seiner großrussischen Sendungsidee geworden ist: Womöglich hat er sich tatsächlich nicht vorstellen können, dass er mindestens im Osten der Ukraine nicht als Befreier begrüßt wird. Er und viele seiner  Unterstützer wollen mit Blick auf die Ukraine schließlich nur, „dass die Gemeinsamkeit unserer Völker und unserer Kulturen eine nachhaltige Zukunft haben“, heißt es in einem Schreiben von 500 Größen des Kulturlebens aus dem Jahr 2014: In einer solchen Situation, könnten auch sie, die Kulturschaffenden Russlands, „nicht gleichgültige Zuschauer mit kaltem Herzen sein“, weil „unsere geistigen Ursprünge, unsere fundamentalen Werte und unsere Sprache… uns für immer verein(en)“.

Diese russischen Oligarchen stehen auf der Sanktionsliste der EU
Tui-Großaktionär Alexej Mordaschow ist wohl in Deutschland einer der bekanntesten Namen auf der neusten Sanktionsliste der EU. Quelle: dpa
Auch der russische Multimilliardär Michael Fridman liest seinen Namen auf der Sanktionsliste. Quelle: Imago
Ebenfalls gegen die EU-Sanktionen will Fridmans Geschäftspartner Petr Aven vorgehen. Die EU nennt Aven „einen der engsten Oligarchen von Wladimir Putin“. Quelle: Imago
Nikolai Tokarew ist Chef des Öl-Pipelinebetreibers Transneft. Quelle: REUTERS
Igor Setschin ist unter anderem als Vertrauter von Altkanzler Gerhard Schröder bekannt. Setschin ist Chef des staatlichen Ölkonzerns Rosneft, bei dem Schröder im Aufsichtsrat sitzt. Quelle: dpa
Der 68-jährige Multimilliardär und Medienmogul Alisher Usmanov war einst Großaktionär beim FC Arsenal London. Quelle: Imago

Zu den Unterzeichnern des Schreibens zählte damals übrigens der Dirigent Valery Gergiev, ein enger, bekennender  Freund Putins, seit 2015 Chef der Münchener Philharmoniker. Vier Jahre nach der dem ersten Überfall Russlands auf die Ukraine fand Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter: „Die Vertragsverlängerung von Maestro Gergiev ist für uns ein Glücksfall.“ Vier weitere Jahre später meinte Reiter jetzt, was für eine Bigotterie, den Dirigenten unter ultimativen Bekenntniszwang setzen zu müssen - und hat ihn entlassen.

Lesetipps:

Vier Sachbücher und ein Roman - für ein tieferes Verständnis des Krieges und des Putinismus, der Ukraine und Russlands.

Ulrich Schmid, „Technologien der Seele. Vom Verfolgen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“, edition suhrkamp, 2015, 18 Euro

Karl Schlögel, „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“, Carl Hanser, 21,90 Euro (als e-Book derzeit für 99 Cent erhältlich!)

Andreas Kappeler, „Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“, C.H. Beck, 2017, e-Book für 12,99 Euro (ab 7. März in einer Neuauflage für 16,95 Euro)

Catherine Belton, „Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“,  HarperCollins, 2022, 26 Euro

Sergej Lebedew, „Menschen im August“, Roman, S. Fischer Verlag, 22,99 Euro (als e-book nur 9,99 Euro)

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%