Theresa May Der Kontrollverlust

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May hat den Bezug zur Realität wohl ganz verloren

Forderungen, ihren vergleichsweise harten Brexit-Kurs abzuschwächen und mit der Opposition auf einen sanfteren Brexit hinzuarbeiten, für den es im Unterhaus vermutlich eine Mehrheit gäbe, lehnte May ab. Stattdessen versuchte sie in endlosen Verhandlungsrunden der EU Zugeständnisse beim Nordirland-„Backstop“ abzuringen, an dem sich viele ihrer eigenen Abgeordneten störten. Doch Brüssel hielt konsequent an der Position fest, dass es am eigentlichen Vertragstext des Austrittsabkommens keine Änderungen geben dürfe. Am Ende kam May nur mit einigen ergänzenden Zusicherungen nach Hause.

Erstaunlicherweise plant Theresa May offenbar noch nicht einmal jetzt eine Kurskorrektur. Ein Sprecher von Mays Regierungssitz in der Downing Street erklärte noch Mittwochabend, man habe nicht vor, die Abgeordneten über einen möglichen alternativen Brexit-Kurs abstimmen zu lassen.

Stattdessen macht es derzeit den Anschein als plane May, die Abgeordneten allen Rückschlägen zum Trotz kommende Woche ein weiteres Mal über ihren Brexit-Deal abstimmen zu lassen. Spätestens dann dürfte klar sein, dass May den Bezug zur Realität wohl ganz verloren hat.

Die EU gab sich von den Entwicklungen in London zunächst unbeeindruckt. Die EU-Kommission erklärte Mittwochabend knapp: „Es gibt nur zwei Wege, um die EU zu verlassen: mit oder ohne ein Abkommen.“ Um einen No-Deal-Brexit vom Tisch zu nehmen, reiche es nicht aus, dagegen zu stimmen. „Sie müssen sich auf ein Abkommen verständigen. Wir haben uns mit der Premierministerin auf einen Deal verständigt, und die EU ist dazu bereit, ihn zu unterzeichnen.“

EU-Verhandlungschef Michel Barnier hinterfragte ganz grundsätzlich, ob die EU den Brexit-Termin verschieben sollte. „Die Diskussionen sind abgehakt. Wir haben ein Austrittsabkommen“, sagte er in einer Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg am Dienstag. Zuvor hat er den Europa-Abgeordneten offenbar mitgeteilt, dass es unter den verbleibenden 27 EU-Mitgliedsstaaten keinen Konsens darüber gebe, Großbritannien eine kurzfristige Verschiebung des Brexit-Termins zu gestatten.

Eine Verschiebung des Brexit-Termins, die über wenige Wochen hinausgeht, würde komplexe politische und rechtliche Fragen aufwerfen. Denn was, wenn Großbritannien noch immer Teil der EU ist, wenn ab dem 23. Mai die Europawahlen abgehalten werden? Sollte der Brexit-Termin über Anfang Juli hinaus verschoben werden, wenn das frisch gewählte EU-Parlament zusammentritt, müssten die Briten theoretisch noch bei den Europawahlen mit abstimmen. Und darauf dürfte weder bei der EU noch in den Regierungen der verbleibenden 27 EU-Staaten jemand Lust haben.

Am Donnerstagmorgen dann kam EU-Ratspräsident Donald Tusk den Befürwortern eines komplett geänderten Brexit-Kurses entgegen. Auf Twitter schrieb er: „Ich werde an die EU27 appellieren, für eine lange Verlängerung offen zu sein, wenn es das Vereinigte Königreich für notwendig hält, seine Brexit-Strategie zu überdenken und einen Konsens darüber zu erzielen.“ Ein anderer Twitter-Nutzer antwortete darauf höhnisch: „Dreißig oder vierzig Jahre klingt ungefähr richtig.“

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