Wirtschaft im Weitwinkel
Europa braucht Zuwanderung Quelle: Fotolia

Europa braucht Zuwanderung

In fast allen europäischen Ländern steht aktuell das Thema Migration ganz oben auf der Tagesordnung. Viele Sorgen und Ängste werden dabei auf die Zuwanderung von Flüchtlingen und Immigranten projiziert. Dabei hat das Thema durchaus noch eine ganz andere Dimension. Denn wie kein anderer Kontinent ist Europa in den nächsten Jahrzehnten auf Zuwanderung angewiesen. Nur so könnten wir unseren heutigen Lebensstandard halten.

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In vielen europäischen Ländern gehen die geburtenstärksten Jahrgänge in den nächsten 15 bis 20 Jahren in Rente. Dies bedeutet dann eine enorme Belastung für Arbeitsmärkte und Sozialsysteme in Europa – und auch in Deutschland. Wenn wir den erreichten Wohlstand in Europa sichern wollen, wird dies ohne Migration nicht funktionieren. Die führenden Forschungsinstitute hierzulande haben bereits im Frühjahr dieses Jahres darauf hingewiesen, dass allein Deutschland in den kommenden Jahren eine jährliche Zuwanderung von 500.000 Menschen benötigt, um die Beitragssätze unserer Rentenversicherung auch in Zukunft stabil zu halten. Gelingt das nicht, müssen Beitragssätze und Steuern massiv angehoben werden.

Entsprechend ist es auch dringend notwendig, dass man sich über sinnvolle Einwanderungsgesetze Gedanken machen muss. Dies sollte aber getrennt von Überlegungen zum Asylrecht geschehen. Angesichts des in Europa erreichten Wohlstands haben wir sicherlich die moralische Pflicht, Menschen in Not und politisch Verfolgte zu unterstützen (wobei natürlich die Schwierigkeit in der Differenzierung zwischen den Beweggründen der Migranten liegt). Es ist aber klar: Auf Dauer ist eine Zuwanderung in die Sozialsysteme nicht möglich, weder gesellschaftspolitisch noch wirtschaftlich.

Ohne Migration droht eine Negativspirale

Und dennoch: Wenn wir in Europa nicht die gesellschaftliche und politische Kraft finden, die Migration sinnvoll zu gestalten, wird der Wohlstand mittelfristig sinken. Den Rückgang des Arbeitskräftepotenzials wird man durch Digitalisierung und weiteren technischen Fortschritt nicht vollständig kompensieren können. Zudem wird es in diesem Umfeld zu einem Generationskonflikt kommen. Bei der jetzigen Struktur der Sozialsysteme würde die Belastung der nächsten Generation auf ein viel zu hohes Niveau steigen. Im Laufe der Zeit würde dies auch seine Spuren im politischen System hinterlassen. Damit würden natürlich die Länder langsam ihre Attraktivität als Wirtschaftsstandort verlieren. Es droht eine Negativspirale, die sich nur schwer wieder stoppen lässt.

All dies ist bekannt und lässt Zukunftsängste aufkommen, die wiederum teilweise auf die Migration übertragen werden. Eine offene politische Diskussion findet aber oft nicht statt, da die Probleme sich in einer Legislaturperiode nicht lösen lassen oder die Debatten sich politisch nicht positiv auf die Parteien auswirken. Stattdessen wurde in Deutschland nun beschlossen, dass das Rentenniveau von 48 Prozent des Durchschnittseinkommens bis zum Jahr 2025 festgeschrieben wird. Das soll die Zukunftssorgen lindern und scheint zunächst auch wenig problematisch, da bis 2025 die resultierenden Belastungen für das Rentensystem beherrschbar sind.

Wenn man aber den wahltaktischen Vorschlag von Finanzminister Scholz umsetzen und das Rentenniveau bis 2040 festschreiben würde, dann müssten eigentlich bereits heute für die Zukunft spürbar höhere Steuern festgelegt werden, um das System zukünftig finanzieren zu können. Hier zeigt sich deutlich, dass das jetzige Rentensystem in Deutschland und auch anderen Ländern Europas in eine demographische Krise schlittert, für die die etablierten Parteien noch keine Lösung haben.

Rückbesinnung auf europäischen Zusammenhalt ist nötig

Diese grundsätzlichen Probleme haben bislang kaum unmittelbare, wirtschaftliche Folgen. Das liegt wohl hauptsächlich an der positiven Entwicklung der Arbeitsmärkte. Hier kommen zurzeit die gute wirtschaftliche Entwicklung und die ersten demographischen Effekte zusammen. Daher bewegen wir uns in Deutschland nahe an der Vollbeschäftigung, und auch in anderen europäischen Ländern sinkt die Arbeitslosigkeit. Die Sorge, arbeitslos zu werden, ist entsprechend gering und die Sparquote steigt nur langsam.

Perspektivisch dürfte sich dies ändern, wenn man in Europa kein glaubhaftes Konzept für eine langfristige, wirtschaftlich gesunde Entwicklung entwerfen kann. Dann kann sich die Gesellschaft wirtschaftlich zunehmend spalten. Wer kann, der wird versuchen, mit einer höheren Ersparnis die finanziellen Belastungen im Alter abzufedern. Eine steigende Sparquote führt aber zu einem geringeren privaten Konsum, was das Wachstum dämpft und damit auch die Investitionsneigung der Unternehmen.

Es gilt also, jetzt zu handeln und das positive wirtschaftliche Umfeld zu nutzen. Jetzt müssen die politischen Weichen für eine prosperierende Zukunft in Europa gestellt werden. Dies wird nur mit einem schlüssigen Konzept für die Zuwanderung funktionieren. Um dies zu erreichen, brauchen wir auch eine Rückbesinnung auf die europäischen Ideale und den Wert des Zusammenhalts. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich wird auch in dieser Zukunftsfrage notwendig sein.

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