Anders Åslund, 69, ist Senior Fellow beim Stockholm Free World Forum, einer außenpolitischen Denkfabrik in Schweden. Der Ökonom und Osteuropaexperte hat zudem einen Lehrauftrag an der Georgetown University in Washington. In früheren Zeiten war er unter anderem Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten Boris Jelzin und des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma.
Wer glaubt, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland unwirksam und unbegründet seien? Klar: Der Kreml vertritt diese Linie. Aber er widerspricht sich selbst, indem er das Ende der Sanktionen fordert. Ähnliche Argumente sind von Investmentbankern zu hören, die mit russischen Anleihen handeln. Sie würden offensichtlich von einer Aufhebung der Sanktionen profitieren, durch die sich die ausländischen Direktinvestitionen in Russland stark verringert haben.
Für mich sind die Argumente gegen Sanktionen nicht stichhaltig. 2014 annektierte Russland die Krim und startete eine (inoffizielle) Militäroffensive in der Ost-Ukraine. Die USA und die Europäische Union konnten angesichts derart eklatanter Verstöße gegen internationale Übereinkommen nicht passiv bleiben. Infolge der schweren Finanzsanktionen stoppte der Kreml seine Offensive, nachdem er lediglich drei Prozent des äußersten östlichen Territoriums der Ukraine in Besitz genommen hatte. Das war viel weniger, als dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am 17. April 2014 vorschwebte, als er sich dafür aussprach, die gesamte südöstliche Ukraine als „Neu-Russland“ zu vereinnahmen.
Die Sanktionen hatten auch die beabsichtigte wirtschaftliche Wirkung. Während das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Mittel- und Osteuropas seit 2014 um drei bis fünf Prozent jährlich gewachsen ist, stagniert es in Russland. Der Kreml schiebt dies auf niedrige Ölpreise, doch während die Öl- und Gaspreise inzwischen wieder gestiegen sind, hält die Stagnation in der russischen Wirtschaft an. Unter den EU-Ländern hat nur Bulgarien ein niedrigeres BIP pro Kopf als Russland.
Wann immer Putin über die Wirtschaft redet, prahlt er mit Russlands Leistungsbilanzüberschuss, dem nahezu ausgeglichenen Haushalt, der minimalen Staatsverschuldung und enormen internationalen Devisenreserven. Doch all dies wurde mit einer extremen Sparpolitik erkauft. Während Putins Wirtschaftsprogramm seine eigene Fähigkeit zu aggressivem Handeln trotz westlicher Sanktionen aufrechterhalten hat, hat es die russischen Privathaushalte verarmen und die verfügbaren Realeinkommen zwischen 2013 und 2020 um elf Prozent schrumpfen lassen.
Es sind die westlichen Finanzsanktionen, die Russland gezwungen haben, zu sparen und einen großen Teil seiner Auslandsschulden zurückzuzahlen. Diese sind von 729 Milliarden Dollar Ende 2013 auf 470 Milliarden Dollar Ende 2020 gesunken, während die erfolgreicheren Schwellenländer ihre Auslandsschulden – und damit ihre Investitionen – um 30 Prozent erhöht haben.
Der Internationale Währungsfonds prognostizierte 2015, dass die westlichen Sanktionen Russland in jedem Jahr zwischen 1,0 bis 1,5 Prozent Wachstum kosten. In einem aktuellen Aufsatz haben Maria Snegovaya von der George Washington University und ich ermittelt, dass die wahren Kosten der Sanktionen seit 2014 sogar 2,5 bis 3,0 Prozent vom BIP betrugen. Diese Differenz spiegelt die zusätzlichen Kosten von Putins Politik wider, die zu weniger verfügbarem Kapital, geringeren ausländischen Direktinvestitionen, einer restriktiveren Geldpolitik und dem Ausbleiben von Steuerimpulsen geführt hat.
Bemerkenswert ist, dass Putin die Stagnation in seinem Land egal zu sein scheint. In einer „Exekutivverordnung über die nationalen Entwicklungsziele Russlands bis 2030“ vom Juli 2020 bekannte er sich dazu, „ein stetiges Wachstum der Haushaltseinkommen und Renten nicht unterhalb der Inflationsrate sicherzustellen“. Anders ausgedrückt: Es wird in Russland weiterhin kein reales Wachstum geben. Seit er 2012 erneut das Präsidentenamt übernahm, hat Putin jede Diskussion über Wirtschaftsreformen abgewürgt. Stattdessen hat er ein System der „Kleptokratie“ perfektioniert, das den Wohlstand des Landes in den Händen reicher Freunde und der Sicherheitsdienste konzentriert, und zugleich jede Rechtsstaatlichkeit beseitigt.
Angesichts einer Gesamtwirtschaftsleistung von rund 48 Billionen Dollar (2020) – gegenüber einem russischen BIP von 1,5 Billionen Dollar – liegt der komparative Vorteil des Westens klar im Bereich der Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Und es ist eindeutig, dass der Westen seine Sanktionen auf die russischen Eliten konzentrieren sollte. Als die USA im April 2018 Sanktionen gegen sieben Putin nahestehende Oligarchen verhängten, ging es am russischen Aktienmarkt an nur einem Tag um elf Prozent nach unten. Und doch haben weder die USA noch die EU diese offensichtlichen Lehren aus den vergangenen sieben Jahren gezogen.
Im Januar schrieb der geschäftsführende Direktor der Stiftung für Korruptionsbekämpfung des inhaftierten Oppositionsführers Alexei Nawalny einen offenen Brief an US-Präsident Joe Biden. Darin nannte er 35 führende russische Regierungsvertreter und Geschäftsleute, gegen die Sanktionen verhängt werden sollten. Doch weder die USA noch die EU sind gegen irgendeinen davon tätig geworden.
Russische Bürger, einschließlich der Kreml-Elite, haben anonym Gelder im Umfang von rund einer Billion Dollar im Westen angelegt. Da diese Vermögen einen korrumpierenden Einfluss auf die westliche Politik haben können, bedarf es neuer Transparenzgesetze, um sie aufzuspüren. Die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit der USA mit ihren Verbündeten ist begrüßenswert. Nun jedoch müssen die USA, die EU, Großbritannien und Kanada ihre Sanktionen gegenüber Russland ausweiten. Der Westen muss sich mit weiteren Finanzsanktionen, die die Kreml-Oligarchen und ihre Familien ins Visier nehmen, geschlossen gegen Putins hybride Kriegsführung zur Wehr setzen. Copyright: Project Syndicate 2021
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