Risikomanagement Wie KI Zulieferer durchleuchtet

Quelle: Getty Images

Das Lieferkettengesetz sorgt bei vielen Mittelständlern für Ärger, bei Start-ups hingegen für Aufschwung: Mit digitalen Tools wollen sie bei der Umsetzung der neuen Regeln unterstützen. Hilfreich sind die Datenauswertungen aber auch für andere Aufgaben.

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Sie soll für einen besseren Überblick sorgen, Prozesse automatisieren und strategische Analysen vereinfachen: Dass ihre digitale Einkaufsplattform den Bedarf mittelständischer Industrieunternehmen trifft, davon waren die Tacto-Gründer André Petry, Johannes Groll und Nico Bentenrieder überzeugt. Und doch war es ein hartes Stück Arbeit, die ersten Firmenkunden an Bord zu holen. „Gerade der Start ohne bestehende Referenzen erfordert von unseren Kunden viel Mut“, räumt Petry ein.

Zwei Jahre nach der Gründung setzen nun mehrere Dutzend Unternehmen die Software ein – darunter etwa der Maschinenbauer Schwäbische Werkzeugmaschinen oder der Etikettenspezialist Herma. Neben der wertvollen Liste der Referenzkunden hilft dem jungen Unternehmen beim Vertrieb aktuell auch ein in Juristendeutsch verfasstes Dokument mit reichlich Paragrafen und einem sperrigen Titel: das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Das sorgt dafür, dass Unternehmen ihre Zulieferer genauer unter die Lupe nehmen müssen. Menschenrechtsverletzungen und Umweltsünden sollen so aufgedeckt werden. Unmittelbar vom Lieferkettengesetz betroffen sind zum Jahreswechsel zunächst Unternehmen mit mehr als 3000 Mitarbeitern, die Grenze sinkt ab 2024 auf 1000 Mitarbeiter.

Doch auch kleinere Firmen werden mit dem Regelwerk konfrontiert, wenn große Abnehmer plötzlich ausführliche Auskünfte von ihnen verlangen. Die Verunsicherung ist groß: Vielen Mittelständlern ist nicht klar, was genau sie von Lieferanten abfragen müssen – und wie sie belegen können, dass sie tätig geworden sind. Entsprechend gefragt sind Anbieter digitaler Plattformen rund um den Einkauf, die wie Tacto versprechen, die geforderten Risikoanalysen zu automatisieren. „Mit dem Gesetz ist die Lieferkettentransparenz bei Geschäftsführern ganz oben auf die Agenda gerückt“, sagt Petry. „Das Thema kann niemand mehr auf die lange Bank schieben.“ 

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Tacto hilft dabei, Daten bei Zulieferern einzusammeln: Per Mausklick werden diese dazu aufgefordert, Selbstauskünfte auszufüllen. Abgefragt wird etwa, ob sie Kinderarbeit und Zwangsarbeit ausschließen, welche Arbeitsschutzmaßnahmen sie treffen und wie sie mit schädlichen Chemikalien in der Produktion umgehen. In dem Schritt werden auch Zertifikate eingesammelt, die die Angaben untermauern. Die Software analysiert dann, ob die Maßnahmen ausreichend sind und kann genutzt werden, um Nachbesserungen bei den Lieferanten einzufordern. Am Ende erhalten die Unternehmen einen Bericht, der bei Kontrollen vorgelegt werden kann. 

KI durchforstet Onlinemedien

Neuen Auftrieb durch die Regularien spüren auch andere Start-ups, die sich auf Lieferantenanalysen spezialisiert haben. Dazu zählt etwa Sustainabill aus Köln mit seiner Software, die bisher vor allem für die Nachhaltigkeitsberichterstattung eingesetzt wurde. Von einem starken Zulauf berichtet auch das Wiener Unternehmen Prewave, das bereits Konzerne wie Volkswagen und Toyota sowie größere Mittelständler wie den Reinigungsmaschinenhersteller Kärcher zu seinen Kunden zählt. „Wir profitieren stark davon, dass nun Budgets bereitgestellt werden, und können in Ausschreibungen auf uns aufmerksam machen“, sagt Mitgründerin Lisa Smith.

Ähnlich wie Tacto und Sustainabill hilft Prewave bei der Kommunikation mit Lieferanten – geht aber über Selbstauskünfte hinaus. Das Start-up verspricht vielmehr, dass seine Kunden von Verfehlungen erfahren, die ihre Lieferanten ihnen vorenthalten. Kern der Software ist eine automatisierte Auswertung lokaler Online-Medien und sozialer Netzwerke. Taucht der Name eines Lieferanten beispielsweise vermehrt im Kontext eines Streiks auf, schlägt die Software Alarm. Denn hinter den Ausständen stehen möglicherweise nicht nur Lohnforderungen, sondern schlechte Arbeitsbedingungen. Ähnlich könnten auch Berichte über Klagen gegen den Lieferanten Hinweise auf mögliche Verletzungen von Arbeits- oder Umweltstandards geben. 

„Um die Anforderungen des Lieferkettengesetzes vollumfänglich zu erfüllen, genügt es nicht, sich alleine auf Selbstauskünfte zu verlassen“, betont Smith. An Grenzen kommt die Software, wenn über Zulieferer auch in lokalen Medien nicht berichtet werden. Behelfsweise werden dann Risikobewertungen anderer Unternehmen aus demselben Land und derselben Branche sowie externe Daten herangezogen. Stark negativ auf die Bewertung wirkt es sich beispielsweise aus, wenn ein Zulieferer in einer Region aktiv ist, aus der Nichtregierungsorganisationen Fälle von Kinderarbeit gemeldet haben. Die Näherungswerte sollen Hinweise darauf geben, bei welchen Lieferanten Unternehmen selbst besonders genau hinsehen sollten. 

Entwickelt hatte die Wirtschaftsinformatikerin Smith die Technologie während ihrer Promotion an der Technischen Universität Wien, damals mit Twitter-Daten. Inzwischen ziehe sie Medien in 50 Sprachen für die Analysen heran, sagt sie. Erfasst seien in der Datenbank aktuell mehr als 400.000 Lieferanten weltweit. „Die Datenbank wächst mit jedem Unternehmen, das wir auf die Plattform holen“, sagt Smith. Aktuell zählt das 2017 gegründete Start-up mehr als 60 Unternehmen zu seinen Kunden.

Investoren stützen die Datenspezialisten

An eine wachsende Nachfrage nach Analyse-Tools für Lieferketten glauben auch Wagniskapitalfirmen. Elf Millionen Euro haben Geldgeber – darunter der Kopenhagener Frühphaseninvestor Kompas und Ventech aus Paris – im September bei Prewave investiert. Konkurrent Tacto hat bereits im März 5,3 Millionen Euro eingesammelt. Im Investorenkreis sind die bekannten deutschen Frühphaseninvestoren Cherry Ventures, UVC Partners und Visionaries Club. Die Steuerung von globalen Lieferketten sei eines der „drängendsten Probleme unserer Zeit“, kommentierte Christian Meermann, Founding Partner bei Cherry Ventures, damals die Investition.

Noch immer strapaziert die Coronapandemie mit all ihren Folgen die weltweiten Lieferketten. Der Krieg in der Ukraine verschärft die Lage noch einmal. Gegen die analogen Probleme gibt es durchaus digitale Mittel.
von Michael Kroker

Tatsächlich ist das Lieferkettengesetz nicht der einzige Nachfragetreiber für die Start-ups. Es verfängt auch das Versprechen der Datenspezialisten, Schwachstellen in Lieferketten aufzudecken. Denn coronabedingte Fabrikschließungen, die Chipkrise und nun der Krieg in der Ukraine haben vielen Unternehmen zuletzt sehr deutlich vor Augen geführt, dass ihre Produktionsketten extrem anfällig sind. In einer Umfrage des Ifo-Instituts gaben im Sommer fast 90 Prozent der Industrieunternehmen an, darauf mit neuen, angepassten Beschaffungsstrategien zu reagieren. Ein größerer Lieferantenpool, eine verstärkte Lagerhaltung und eine bessere Überwachung der Lieferketten sind die am häufigsten genannten Maßnahmen.

Im Wettbewerb mit Excel-Tabellen

Tacto will im ersten Schritt vor allem Transparenz schaffen: „Viele Unternehmen verwalten selbst mehrere Tausend Lieferanten noch manuell per Excel-Liste“, so die Beobachtung von Gründer Petry. Ein Gesamtbild auf die Lieferkette fehle. Klassische Softwarelösungen etwa von SAP seien in den Augen vieler Mittelständler aber zu schwerfällig und zu teuer. „Unsere Kunden wollen IT-Projekte, die Millionen verschlingen und sich über Jahre hinziehen, vermeiden.“ Das Start-up wirbt damit, dass dessen Software binnen weniger Tage in Betrieb genommen werden kann – im Zweifel ließen sich einfach die Daten aus Excel-Tabellen importieren.

Einmal eingerichtet, soll die Software mit digitalen Formularen und Vorlagen zum einen die Kommunikation mit Lieferanten vereinfachen. Zum anderen sollen KI-basierte Analysen die Einkäufer auf gefährliche Abhängigkeiten hinweisen. Kommen etwa Schlüsselkomponenten für ein Produkt alle vom selben Lieferanten, empfiehlt die Software, sich nach weiteren Anbietern umzusehen – und hilft auch gleich dabei, die Angebote einzuholen. Derzeit arbeite das 30-köpfige Team zudem stark an Analysen nach Kostenbestandteilen, so der Gründer: Die Software soll künftig unter anderem aufzeigen, wie abhängig ein Unternehmen von einzelnen Rohstoffen oder Energieträgern ist.

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Bei Prewave liegt der Fokus dagegen darauf, Störungen der Lieferketten zu antizipieren. Einzelne Probleme wie ein Streik sollen von der Software dabei genauso berücksichtigt werden wie Ereignisse, die mehrere Unternehmen in einer Region betreffen. So gleicht Prewave zum Beispiel ab, ob ein Erdbeben oder eine Überschwemmung bis zum Werkstor reicht. Auch Corona-Lockdowns in China behalten die Algorithmen im Blick. „Unsere Kunden sollen eine Werksschließung nicht erst dann bemerken, wenn eine Lieferung tatsächlich ausfällt“, sagt Smith.

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