Tauchsieder

Das Gift der asozialen Medien

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Informationskrieg

Wohin das führen kann, zeigt das Beispiel des US-Sonderermittlers Robert Mueller, der 13 Personen und drei Organisationen in Russland angeklagt hat, im Wahlkampf 2016/17 einen „Informationskrieg“ gegen die USA geführt zu haben. Muellers Befund: Die Propaganda aus Moskau habe sich der sozialen Medien bedient, um die Stimmung aufzuheizen gegen die demokratische Kandidatin Hillary Clinton - und um die Wahl von Donald Trump zu begünstigen. 

Und, wie reagiert der US-Präsident? Nun - er treibt das Desinformationsspiel auf die Spitze, in dem er die Fakten nicht mehr kraftvoll leugnet, sondern schwach abstreitend gelten lässt: Souverän ist, wer dem informationellen Ausnahmezustand enthoben ist - der keine Öffentlichkeit mehr akzeptiert als Markt der Ideen (John Stuart Mill), sondern ein Umfeld der Verunsicherung schafft, in der Lügner oder Nicht-Lügner Lügner oder Nicht-Lügner der Lüge oder Nicht-Lüge bezichtigen. Und so mit empirisch belegbaren Fakten von Institutionen und Wissenschaftlern auch alle intersubjektiv geteilte Wahrheit, den sozialen Kitt einer Gesellschaft, vernichten kann.

Um es ganz klar zu sagen: Hier geht es nicht mehr um die Faktizität von Fakten, ihre Widerlegung, Simulation oder Erfindung. Sondern um die Zerstörung ihrer Entstehungsbedingungen, um die Austauschbarkeit, Relativierung und Egalisierung dessen, was stimmt oder auch nicht, kurz: nicht mehr um Desinformation, sondern um Nicht-Information. Der Rest wird frei flottierende Stimmung sein.

Für den drohenden Absturz der „Öffentlichkeit“ in einen Raum der Nicht-Information gibt es viele Gründe. Einer davon ist der „kommunikative Klimawandel“, den der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem marktfrischen Buch „Die große Gereiztheit“* diagnostiziert. Mit dem Relevanz-, Reichweiten- und Vertrauensverlust traditioneller Massenmedien und dem Aufstieg „sozialer Medien“ als einer Art „fünfte Gewalt“, so Pörksen, gehe eine multiple Krise der Wahrheit, des Diskurses und der Autorität einher. Diese buchstabiert der Autor gekonnt aus, mit viel Sachverstand und noch mehr Lust an der zuspitzenden Begriffsverdichtung.

Da ist von „digitalen Fieberschüben“ einer „Emotionsindustrie“ die Rede und vom „Impulsgewitter“ in der vernetzten Welt, von der „deterritorialisierten Simultaneität“ unserer Ereigniswahrnehmung und der „rauschhaften Nervosität“ ganzer Gesellschaften, von „kollabierenden Kontexten“ durch die „Deregulierung des Wahrheitsmarktes“ und natürlich von der „ideologischen Selbstversiegelung“ der Facebook-Nutzer. Und weil Pörksen zum Beleg seiner wortgewaltigen Befunde ein haarsträubendes Beispiel an das nächste reiht - für Videos, die Sensation machten, für Tweets, die Skandale auslösten, für unsichere Nachrichtenlagen, in die hinein vorverurteilende Mutmaßungen gesendet wurden und für Nonsense-Postings, die eine globale Nachrichtenkarriere hinlegten -, schrammt er auf fast jeder der 220 Seiten nur knapp an der Gefahr vorbei, ein Beispiel derselben Überspanntheit abzugeben, die er in kritischer Absicht untersucht.

Pörksens Generalbefund ist nicht neu: Wir stehen an der Schwelle von der „Mediendemokratie“ zur „Empörungsdemokratie“, ja: „Wir sind gereizt, weil uns der Gedanken- und Bewusstseinsstrom anderer Menschen in nie gekannter Direktheit erreicht, wir ungefiltert der Gesamtverfassung der Menschheit… ausgesetzt werden“ - und weil wir keinen archimedischen Punkt mehr kennen, der uns einen gesicherten, ungefilterten Blick auf das gestatten würde, was wirklich und nachrichtlich wahr ist. Er versagt sich jede Einseitigkeit, jedes Abdriften in die kulturpessimistische Schwarzmalerei und weist pflichtschuldig auf die emanzipativen Aspekte der sozialen Medien hin, auf ihre potenzielle Sprengkraft für totalitäre Regime oder auf die Entmachtung eines frontalbelehrenden Gatekeeper-Journalismus, der mit ihrem Siegeszug einhergeht. 

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