Volker Thiel ist Professor am Institut für Virologie an der Universität Bern.
WirtschaftsWoche: In Südafrika und Brasilien sind neue Mutationen des Coronavirus aufgetaucht. Wie alarmiert sind Sie auf einer Skala von eins bis zehn?
Volker Thiel: Bei ungefähr fünf, würde ich sagen.
Das klingt ja fast schon entspannt. Woher die Gelassenheit?
Gelassen bin ich keineswegs. Es gibt erste Berichte aus Südafrika, dass sich die neue Variante sehr schnell ausgebreitet. Und erste Laborbefunde vom Serum jener Menschen, die schon Corona hatten, zeigen offenbar, dass deren Antikörper die neue Variante schlechter neutralisieren als das ursprüngliche Virus.
Bedeutet das, dass auch jetzige Impfstoffe nur noch eingeschränkt wirken?
Ohne weitere experimentelle Daten lässt sich das schwer sagen. Unser Immunsystem greift das Virus ja nicht nur mit Antikörpern an, sondern auch mit sogenannten T-Zellen. Und bei denen bin ich eher entspannt. Die T-Zellen-Antwort ist von Mensch zu Mensch anders, da kann sich das Virus nicht so gut anpassen. Und sie macht etwa 50 Prozent unserer Immunantwort bei Coronaviren aus. Die bisherigen Impfstoffe werden nicht komplett unwirksam. Wir können also wahrscheinlich noch einige Zeit mit ihnen arbeiten. Bis dahin werden Studien zeigen, ob eine Anpassung danach notwendig wird. Und selbst wenn der Impfstoff am Ende nicht mehr zu 100 Prozent schützt, kann er hoffentlich noch einen schweren Verlauf verhindern.
Aber sollten wir nicht doch vor den Mutationen gewarnt sein?
Dass solche Mutationen auftreten, damit haben wir gerechnet – wenn wir ehrlich sind, sogar viel früher. Wir müssen diese Entwicklung im Auge behalten, Netzwerke ausnutzen, um experimentelle Daten auszutauschen und zu analysieren. Die mRNA-Impfstoffe etwa von Biontech oder Moderna sind dann in relativ kurzer Zeit anpassbar. Bei dem klassischen von AstraZeneca wird das zwar etwas komplexer. Dafür ist der Impfstoff dann einfacher zu produzieren.
Wie sich die Corona-Impfstoffe unterscheiden
Forscher liefern sich weltweit ein Wettrennen um wirksame Impfstoffe gegen Covid-19. Alle Impfstoffkandidaten basieren auf demselben Grundprinzip: Dem Abwehrsystem des Körpers werden Teile des Coronavirus präsentiert (Antigene), auf die die Immunzellen eine Antwort (Antikörper) herausbilden und so eine Immunität gegenüber dem Krankheitserreger aufbauen.
Dabei gibt es ganz unterschiedliche Herangehensweisen, etwa, welche Antigen-Teile dem Immunsystem wie präsentiert werden. Hier stehen derzeit zwei Entwicklungslinien im Fokus:
- Impfstoffe mit Vektorviren, das bedeutet so viel wie "Träger-Viren"
- und die neuartigen mRNA-Impfstoffe.
Stand: 11. Mai 2021
mRNA-Impfstoffe enthalten Abschnitte aus dem Erbgut des Coronavirus, die sogenannte messenger-RNA (kurz mRNA), die auch als Boten-RNA bezeichnet wird. Hiervon wird eine sehr geringe Menge dem Menschen in den Muskel injiziert. Die Körperzellen nehmen die Partikel auf und entschlüsseln die enthaltene Erbinformation. Kurzzeitig produzieren sie ein sogenanntes Spike-Protein, das an der Oberfläche des Coronavirus sitzt. Es macht vereinfacht gesagt dem Immunsystem deutlich, dass hier etwas Körperfremdes zu finden ist, das es unschädlich zu machen gilt. Für dieses Oberflächenprotein bildet das Abwehrsystem also Antikörper, die es ihm bei einer späteren Infektion mit dem Coronavirus ermöglichen, den Eindringling schnell zu erkennen und sofort eine Immunantwort parat zu haben.
Studien haben gezeigt, dass hiervon keine Gefahr für den menschlichen Körper ausgeht. Die eingeschleusten Erbgut-Teilchen werden innerhalb kurzer Zeit von den menschlichen Zellen abgebaut. Sie werden nicht in die menschliche DNA eingebaut. Sobald die mRNA des Impfstoffs abgebaut ist, findet keine weitere Produktion des Antigens statt.
Die mRNA-Impfstoffe können innerhalb weniger Wochen in sehr großen Mengen hergestellt werden. Sie bringen jedoch die Herausforderung mit sich, dass sie nach derzeitigem Forschungs- und Entwicklungsstand bei extrem niedrigen Temperaturen transportiert und dauerhaft gelagert werden müssen (-20 bis -80 Grad Celsius). Deshalb werden sie vorrangig in speziell dafür ausgerüsteten Impfzentren verabreicht. Hier soll der Moderna-Impfstoff allerdings einen Vorteil haben: Laut dem Hersteller kann er bis zu 12 Stunden bei Raumtemperatur und 30 Tage im Kühlschrank (2 bis 8°C) gelagert werden.
Für vektorbasierte Impfstoffe werden für Menschen harmlose Viren als kleine Transporter zweckentfremdet – sozusagen als trojanisches Pferd. Die Viren werden so verändert, dass sie in ihrem Erbgut auch den Bauplan für einen oder mehrere Bestandteile (Antigene) desjenigen Erregers enthalten, gegen den eine Immunität (Antikörper) aufgebaut werden soll. Das Prinzip ist immer das gleiche: Die menschlichen Zellen sollen auch hier Teile des Spike-Proteins des Coronavirus herstellen, damit das Immunsystem "weiß", wen es angreifen soll.
Auch hier werden die Viren-Erbinformationen nicht in die menschliche DNA eingebaut. Nach dem Abbau der von den Vektorviren übertragenen Erbinformation findet keine weitere Produktion des Antigens statt.
Vektorimpfstoffe wurden bereits zugelassen (zum Beispiel Ebola-Impfstoffe). Die Corona-Impfstoffe der Firmen AstraZeneca und Johnson & Johnson (J&J) sind Vektorimpfstoffe. Diese haben gegenüber den mRNA-Impfstoffen den Vorteil, dass sie bei Temperaturen von 2 bis 8 Grad Celsius transportiert und gelagert werden können. Das macht ihren Einsatz in normalen Hausarztpraxen simpler. Das J&J-Präparat hat zudem den Vorteil, dass es nur einmal verabreicht werden muss. Die drei anderen bislang in Deutschland zugelassenen Corona-Impfstoffe (von AstraZeneca, Biontech/Pfizer und Moderna) müssen zwei Mal gespritzt werden.
Quelle: RKI, eigene Recherche
Aber müssen die veränderten Impfstoffe dann nicht neu zugelassen werden?
Bei den Nebenwirkungen ist keine Änderung zu erwarten. Der Impfstoff an sich bleibt ja der gleiche, es werden nur einzelne Bausteine im genetischen Code ausgetauscht. Dann hat man sozusagen Version 2.0. Um solch einen angepassten Impfstoff zuzulassen, wären meiner Ansicht nach höchstens minimale klinischen Studien notwendig. Man könnte sogar eine Art Cocktail mixen, um mehrere Virus-Varianten abzudecken.
Wie oft wird man die Impfstoffe updaten müssen in den nächsten Jahren?
Bei den Coronaviren, die Schnupfen auslösen, ist es ein Prozess von mehreren Jahren, bis sich die Viren so verändern, dass dies den Immunschutz messbar beeinträchtigt. Bei Sars-CoV-2 sehen wir momentan aber global sehr viel Virusvermehrung, das kann den Prozess beschleunigen.
In einigen Ländern wird die Bevölkerung wohl erst 2024 geimpft sein. Ist das denn unter diesen Umständen akzeptabel?
Ich als Virologe habe natürlich den Wunsch, dass man jetzt sofort alle impft. Die Realität ist leider, dass die Hersteller diese Massen an Impfstoff erst produzieren müssen. Und wir sehen, dass dies eine Herausforderung sein kann. Trotzdem: Wir müssen die Menschen schnell impfen. Und noch wichtiger: Wir müssen die Infektionszahlen drastisch senken. Mutationen können nur entstehen, wenn sich das Virus vermehrt. Wenn wir die Fallzahlen reduzieren, haben wir automatisch weniger Mutationen. Das muss aber nicht nur Europa tun, das sollte international passieren.
Sind wir darauf gut vorbereitet?
Wir haben in der Pandemie gelernt, mit Überraschungen zurecht zu kommen. Die Geschwindigkeit auf der Forschungs-, Entwicklungs- und Herstellungsseite ist enorm. Deshalb habe ich keine Bedenken, dass wir auch in Zukunft schnell und flexibel reagieren können. Die Impfstoffe werden im Zweifel schnell angepasst und es stehen ja auch noch Impfstoffe bereit, die auf eine Zulassung warten. Dann haben wir im Zweifel also auch noch Alternativen zur Hand. Dazu gehört aber dringend auch, dass wir die Impfung mit Forschung begleiten. Wenn sich Geimpfte später mit dem Virus infizieren und Symptome entwickeln, müssen wir schnell herausfinden, welche Virus-Version das ist. Das liefert wichtige Anhaltspunkte, ab wann wir den Impfstoff updaten müssen. Und wir erfahren, wie viel Immunwirkung verbleiben muss, bevor es einer Nachimpfung bedarf.
Wie ist das mit den Antikörpertherapien, die Deutschland gerade neu eingekauft hat? Helfen die auch bei den Mutationen?
Das ist in der Regel ein Cocktail aus mindestens zwei Antikörpern. Die müssen wir im Auge behalten. Da kann es schon sein, dass man da einen Antikörper ersetzen muss, wenn er durch die Mutation nicht mehr funktioniert.
Wann werden wir mehr wissen zu den Mutationen?
In den nächsten ein bis zwei Monaten wird es viele vorläufige Studien geben, die unser Bild etwas schärfen. In zwei Monaten rechne ich dann auch mit soliden definitiven Studien.
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