Kernkraft während der Krise Unterschätzt Deutschland den Kostenvorteil der Atomenergie?

Das Kernkraftwerk Isar 2 in Bayern. Billiger als ein Offshore-Windrad. Quelle: imago images

In Belgien wird der umstrittene Atomreaktor Tihange 2 vom Netz genommen. In Deutschland geht die Debatte um eine Laufzeitverlängerung weiter. Auch, weil die Atomstromkosten Experten zufolge in der Krise sehr viel niedriger sind als bei Gas und Kohle – und sogar als bei manch erneuerbarer Energie.

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Jetzt ist Schluss: Belgien schaltet den umstrittenen Atommeiler Tihange 2 an diesem Dienstag endgültig ab. Über Jahre hatten Bürger etwa im benachbarten Aachen protestiert, weil Experten Risse im Reaktordruckbehälter festgestellt hatten. Für das kleine Land, das eigentlich schon 2003 den Atomausstieg beschlossen hatte, ist es aber kein Abschied von der Kernkraft. Erst Anfang Januar entschieden die belgische Regierung und der Energiekonzern Engie, die Laufzeit unter anderem des benachbarten Reaktors Tihange 3 um zehn Jahre zu verlängern. Vor allem, um die Energiesicherheit nach dem russischen Überfall auf die Ukraine zu gewährleisten.

Tatsächlich ist die Atomkraft immer noch eine der billigsten Energieformen, um die akuten Versorgungslücken zu schließen, die der Mangel an russischem Gas verursacht hat. Das geht etwa aus Daten des Berliner Energieberaters Enervis hervor. So betragen die variablen Stromgestehungskosten für typische Atomkraftwerke in Deutschland gerade mal 20 bis 25 Euro je Megawattstunde. Enthalten sind darin beispielsweise die Kosten für Brennstäbe sowie für Instandhaltung und Betrieb der Anlagen. Als Stromgestehungskosten bezeichnet man jene Kosten, die bei der Stromerzeugung anfallen. 

Besonders Kohle und Gas können in dem von Enervis gerechneten Szenario, in dem ein Emissionszertifikat etwa 110 Euro kostet und der Gaspreis bei 40 Euro je Megawattstunde liegt, finanziell kaum mit der Atomkraft mithalten: Die variablen Stromgestehungskosten bei Braunkohle lägen dann bei mehr als 100 Euro je Megawattstunde, bei Steinkohle wären es sogar mehr als 125 Euro. Schon jetzt sind Emissionszertifikate teuer, erreichten im Herbst zeitweise einen Wert von fast 100 Euro je Tonne Kohlendioxid. Dass sich Kohlestrom dennoch rechnet, liegt laut dem Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität zu Köln vor allem am hohen Strompreis, der auch weniger rentable Energieformen attraktiv macht. Erdgas schneidet in den Enervis-Daten ebenfalls ziemlich schlecht ab. Hier liegen die variablen Gestehungskosten zwischen 110 und 125 Euro je Megawattstunde.

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Sehr viel billiger, zumindest was die variablen Kosten angeht, sind da die erneuerbaren Energien. Windstrom – egal ob an Land oder auf See gewonnen – schlägt mit nur fünf Euro je Megawattstunde zu Buche. Bei Solaranlagen ist es sogar nur ein Euro. Allerdings, sagt Mirko Schlossarczyk, Partner bei Enervis, habe man in diesem Bereich das Problem, dass die Anlagen einfach nicht in ausreichendem Maße vorhanden seien.

Fixkosten machen Erneuerbare teuer

Berücksichtigt man auch die Fixkosten, kann die Atomkraft selbst mit den Erneuerbaren mithalten. 30 bis 40 Euro betragen die laut Enervis bei einem typischen Kernkraftwerk je Megawattstunde, fallen etwa in Form von Einzahlungen in den Entsorgungs- und Stilllegungsfonds an. Sie sind vor allem so niedrig, weil die Kraftwerke seit Jahren abgeschrieben sind. Bei einem Neubau wären sie sehr viel höher. 

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Der Vergleich zeigt den Vorteil der Atomenergie: Bei Windkraftanlagen an Land betragen die Fixkosten satte 60 bis 70 Euro je Megawattstunde. Bei solchen auf See sind es sogar mehr als 100 Euro. Ähnlich ist es bei der Fotovoltaik. Bei Anlagen auf Dächern belaufen sich die Fixkosten im Schnitt auf mehr als 100 Euro je Megawattstunde. Bei solchen auf Freiflächen sind es immerhin 60 Euro. Bei Gasmeilern, die häufig hoch- und runtergefahren werden können, lassen sich die Fixkosten pro Megawattstunde dem Energieberater zufolge zurzeit schwer kalkulieren: Sie seien zu stark davon abhängig, wie oft und wie lange die Anlagen Strom liefern.

In Deutschland scheint die Ära der Kernkraft dennoch bald und unwiderruflich beendet zu werden. Zwar hat die Ampelregierung nach einem „Machtwort“ von Bundeskanzler Olaf Scholz die Laufzeit der drei am Netz verbliebenen Kernkraftwerke Emsland (RWE), Neckarwestheim (EnBW) und Isar 2 (Preussen Elektra/Eon) um dreieinhalb Monate bis zum 15. April verlängert. Aber danach soll, geht es nach dem Willen vor allem der Grünen und von Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck, definitiv Schluss sein.

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Es fehlt der politische Wille

Habecks Koalitionspartner, die FDP, drängt dagegen auf eine weitere Verlängerung, das Hauptargument auch hier, wie in Belgien: die Versorgungssicherheit. Tatsächlich gibt es durchaus Argumente, dass die stabile Versorgung über Atomkraftwerke gerade in Süddeutschland dazu beitragen könnte, so genannte Redispatches zu erleichtern. Sie könnten für eine Balance im System sorgen, wenn im Norden wieder einmal viel Strom mit Windkraft erzeugt wird, der wegen fehlender Leitungskapazitäten nicht nach Süddeutschland transportiert werden kann.

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Allerdings hatten die Betreiber, vor allem EnBW und Eon als Mutterkonzern von Preussen Elektra, sich in jüngster Zeit nach Kräften bemüht, die Atomdebatte loszuwerden. EnBW-Kernkraftspezialisten wiesen vor Weihnachten auf die technischen und personellen Schwierigkeiten hin, die eine Verlängerung über den 15. April hinaus mit sich bringen würde. Nahtlos geht das ohnehin nicht, weil die Betreiber neue Brennstäbe bestellen müssten, die frühestens in sechs bis neun Monaten verfügbar wären, auch eine weitere Revision sei notwendig und für den Betrieb müsste Personal speziell geschult werden.

Im Januar hatte der neue EnBW-Chef Andreas Schell gesagt, der „Point of no return“ sei längst überschritten. Die Botschaft lautete: Es ist zu spät. Aus. Schluss. Vorbei.

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Aber zugleich heißt es hinter vorgehaltener Hand aus Betreiberkreisen: Wenn die Politik partout darauf beharrt, neue Brennstäbe zu bestellen, um die Kraftwerke nach einer Pause weiterlaufen zu lassen, wenn die Politik bereit ist, dafür das nötige Geld in die Hand zu nehmen, dann würde auch das durchaus möglich sein – und auch mit durchaus lukrativen Aussichten für Betreiber. Nur müssen die Entscheidungen dafür eben in Berlin fallen und nicht in Unternehmenszentralen in Essen oder Karlsruhe.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Textes wurde nicht klar darauf hingewiesen, dass es sich bei den genannten Zahlen um ein wahrscheinliches Zukunftsszenario handelt, bei dem der Gaspreis bei rund 40 Euro liegt und Emissionszertifikate etwa 110 Euro kosten. Die aktuellen Kosten etwa von Kohle und Gas weichen von diesen Zahlen ab.


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