Raumfahrt „Beinahe-Kollisionen passieren inzwischen regelmäßig“

Was wenn es voll wird im Weltall? Experten diskutieren schon seit Jahren über die richtigen Regeln für den Weltraumverkehr. Quelle: imago images

Satelliten von SpaceX sind der chinesischen Raumstation bedrohlich nahe gekommen. Experten drängen: Es ist höchste Zeit für ein Verkehrsmanagement im Orbit.

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Die Crew der Mission Shenzhou 13 war gerade mal sechs Tage auf der chinesischen Raumstation Tiangong, da wurde es schon brenzlig. Starlink-2305, ein rund 260 Kilogramm schwerer Satellit von Elon Musks Raumfahrtunternehmen SpaceX, sauste gefährlich nah auf das 16 Meter lange chinesische Raummodul zu. Bei einem Tempo von etwa 7,5 Kilometern pro Sekunde hätte der Satellit die Station und die drei Astronauten an Bord bei einem Zusammenprall zerschmettert wie ein Marschflugkörper. Doch die Katastrophe ließ sich verhindern – das chinesische Missionskontrollzentrum ließ die Raumstation auf eine andere Bahnebene ausweichen.

Der Vorfall, einer von zweien, die China vor wenigen Tagen öffentlich machte, lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Problem, das die Raumfahrtindustrie zunehmend Kopfschmerzen bereitet: im All herrscht Verkehrschaos. Hunderte Satellitenbetreiber, teils staatlich, immer öfter privat, schicken immer mehr Gerät ins All. 4550 aktive Satelliten kreisen laut den letzten Daten der Union of Concerned Scientists im Höllentempo um die Erde. Der Verkehr schwillt an, aber niemand bestimmt die Regeln.

Immer größer wird deshalb auch die Unfallgefahr. „Beinahe-Kollisionen passieren inzwischen regelmäßig“, sagt Tanja Masson-Zwaan, Raumfahrtexpertin am International Institute of Air and Space Law der Universität Leiden in den Niederlanden.

Russland schießt Satelliten ab

Doch Regierungen weltweit tun bislang wenig, um das Problem in den Griff zubekommen. Sondern verschärfen es im Zweifel noch – wie Russlands Test eines Satellitenabwehrsystems im November, das mehr als tausend Bruchstücke hinterließ, die seither wichtige Satellitenbahnen verschmutzen. Die Internationale Raumstation ISS musste in der Folge einen geplanten Weltraumspaziergang aus Sicherheitsgründen streichen.

Die Rufe werden darum lauter nach einem internationalen Verkehrsmanagement für den Erdorbit. Josef Aschbacher, Chef der Europäischen Weltraumorganisation Esa, warnte neulich, SpaceX-Chef Elon Musk werde sonst de facto allein bestimmen, was im All gilt – allein durch die schiere Masse an Satelliten, die dort in seinem Auftrag unterwegs sind.

Mitte September startete eine Allianz von Raumfahrtunternehmen und Raumfahrtorganisationen die Initiative „Net Zero Space“, eine Art WWF für den Weltraum: „Der Schutz der Umwelt in der Erdumlaufbahn sollte im Mittelpunkt aller Raumfahrtaktivitäten stehen“, heißt es in der Deklaration. Internationale Zusammenarbeit sei dabei unerlässlich. Auch ein von der EU gefördertes Forschungsprojekt namens Spaceways erörtert aktuell, was auf den Straßen im All reguliert werden sollte.

Derzeit stützt sich die Weltgemeinschaft auf den Weltraumvertrag von 1967. Die Vertragsstaaten, heißt es in Artikel 6, trügen die internationale Verantwortung für nationale Aktivitäten im Weltraum. China bezog sich nun auf diesen Artikel, um gegen die Gefahr durch SpaceX-Satelliten zu protestieren – und macht damit indirekt die US-Regierung für die Verkehrsgefährdung im Orbit verantwortlich.

Verkehrsregeln für Raumfahrzeuge

Doch strengere nationale Regeln für die Nutzung des Alls allein werden das Problem nicht in den Griff bekommen – schließlich lässt sich der Weltraum gerade nicht in nationale Hoheitszonen aufteilen, jeder Satellit kreist in eineinhalb Stunden einmal um den gesamten Erdball. „Ähnlich wie die Internationale Zivilluftfahrtorganisation den Luftverkehr organisiert“, sagt Raumfahrtexpertin Masson-Zwaan, „brauchen wir vielleicht eine weltweite Verkehrsorganisation für den Weltraum.“ Die müsste wichtige Fragen klären: Welche Regeln gelten? Wie wird der Verkehr überwacht? Und welche technische Ausstattung brauchen die Teilnehmer im Raumfahrtverkehr? Wie viele Satelliten dürfen insgesamt in welchen Zonen unterwegs sein? 

Um künftige Konflikte zu vermeiden, bräuchte es etwa eindeutige Vorfahrtsregeln. Bisher schicken Betreiber ihre Satelliten nach eigener Entscheidung in einen höheren Orbit, wenn sie eine Kollision befürchten. Solche Manöver kosten Sprit, den Satelliten für ihre Lagesteuerung und die Bewahrung der Bahnhöhe benötigen, und verkürzen so die Lebensdauer des Satelliten. „Wer ausweichen muss, wird möglicherweise davon abhängen, wer die beste Manövrierfähigkeit hat“, sagt Masson-Zwaan. 

Die Space Safety Coalition, eine Vereinigung von Raumfahrtunternehmen, schlug schon vor zwei Jahren in einem Maßnahmenkatalog vor, dass sich die beiden Betreiber bei einer möglichen Koordination immer über Ausweichmanöver abstimmen sollten. Im Falle von SpaceX und der chinesischen Raumstation dagegen gab es offenbar keine Kommunikation, China zeigte sich irritiert über die Bahnmanöver eines Starlink-Satelliten.

Um zu wissen, wann ein Bahnmanöver angesagt ist, müssen die Satellitenbetreiber überhaupt erst genug Daten über das Verkehrsgeschehen im Orbit besitzen. Sowohl die USA als auch Europa betreiben Überwachungsprogramme, teils mit Bodenradars, teils mit Satelliten, um die Bahnen der tausenden Satelliten ständig zu verfolgen – und die von abertausenden Trümmerstücken, die im Orbit unterwegs sind. „Die Überwachungsfähigkeiten müssen sicherlich noch verbessert werden“, sagt Expertin Masson-Zwaan.

Ein weiterer Vorschlag in dem Papier: Satelliten, die höher als 400 Kilometer fliegen, sollten aktive Ausweichmanöver durchführen können, um die Wahrscheinlichkeit einer Kollision auf weniger als ein Zehntausendstel zu reduzieren. „Viele kleine Satelliten, so genannte Cubesats, sind gar nicht steuerbar“, sagt Expertin Masson-Zwaan. „Es sollten Regeln eingeführt werden, die solche Satelliten weitgehend verbieten.“

Start-ups überwachen die Erdumlaufbahn

Wie auch in anderen Bereichen der Wirtschaft dürfte es jedoch schwierig werden, angesichts der angespannten geopolitischen Lage internationale Vereinbarungen zu erreichen. „Dass es eine globale Weltraumpolizei gibt, ist sehr unwahrscheinlich“, sagt Masson-Zwaan. Eine globale Behörde, die nicht nur Regeln verhandeln, sondern auch strikte Sanktionen ausüben kann, wird es vermutlich so schnell nicht geben.

Darum ist es die Raumfahrtindustrie selbst, die nun voranschreiten könnte. So rief das World Economic Forum ein Space Sustainability Ranking ins Leben, bei dem Betreiber von Satelliten und Raketen die Nachhaltigkeit ihrer Missionen freiwillig bewerten lassen. Kriterien für eine gute Bewertung sind etwa die gemeinsame Nutzung von Daten, die Wahl der Umlaufbahn, Maßnahmen zur Vermeidung von Kollisionen oder die Frage, wie gut die Satelliten von der Erde aus entdeckt und identifiziert werden können. Auch Pläne für die Entfernung der Satelliten aus der Umlaufbahn nach Abschluss der Missionen bringen Punkte. „Wenn Ihr Auto kaputt geht, können Sie es auch nicht einfach am Straßenrand stehen lassen, sondern müssen es verschrotten“, sagt Masson-Zwaan. „Auch im All muss es Regeln geben, seinen Müll aufzuräumen.“

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Aus dem Verkehrsreglement im All machen einige Start-ups inzwischen sogar ein Geschäft. So hat das US-Unternehmen Slingshot Aerospace eine Software entwickelt, die Satellitenbetreiber vor Kollisionen warnt und die Kommunikation untereinander vereinfacht. Zu den ersten Nutzern gehört der Betreiber OneWeb, der tausende Kommunikationssatelliten ins All schicken will, und Spire, der eine Flotte von Erdbeobachtungssatelliten betreibt.

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