Jenseits von Konsum So geht ein Leben ohne Geld

Foodsharing und Kleiderkiste: Zwei Pioniere probieren aus, wie es sich ohne Geld leben lässt - bisher ganz gut, sagen sie.

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Seit einem Jahr leben Pia Damm, 21, und Tobias Rosswog, 22, komplett ohne Geld – oder „geldfrei“, wie sie es nennen. Arm sind sie nicht. Im Gegenteil: Die beiden können sehr gut von dem leben, was übrig bei anderen bleibt und andernfalls weggeworfen würde.

Ihre Kleidung holen sie im Umsonstladen oder im Kleidertausch. Mit einigen Supermarkt-Filialen und Kantinen haben sie ausgehandelt, dass sie nicht genutztes Essen abholen. Das spart den Einrichtungen sogar Entsorgungskosten.

Kleidertausch und FoodsharingEine weitere Möglichkeit: Mittlerweile gibt es in jeder größeren Stadt Foodsharing-Initiativen. Wer Lebensmittel nicht braucht oder teilen möchte, schreibt das einfach auf die Internet-Plattform. So landet weniger im Müll.

Im bayerischen Kempten haben Pia und Tobi, wie Tobias lieber genannt wird, sogar ein kleines Zuhause - auch das ganz umsonst. Ein Freund hatte ein Zimmer übrig, das er nicht brauchte. Meistens sind die beiden aber unterwegs und übernachten bei Bekannten. In Deutschland, Österreich und der Schweiz geben sie Tipps zum geldfreien Leben. So wie jetzt wieder in Berlin.

Auf dem Seminar „Transition erleben“ diskutierten Studenten und Interessierte vier Tage lang über eine Welt jenseits von Wachstum und über Nachhaltigkeit und Konsum.

Organisiert hat das Treffen der Verein Weltweiterdenken“, der sich für Ideen rund um eine gerechtere und ökologische Umwelt“ engagiert.

Fliegen - oder lieber nicht?Die Entscheidung für ein geldfreies Leben sei ein Prozess gewesen, sagt Tobi. „Geld zu verdienen, nur damit ich über die Runden komme und meine Bedürfnisse stille, kam mir ziemlich sinnlos vor“, erzählt er.

Hinter dieser Aussage stehen ganz grundsätzliche Fragen: Warum immer mehr wollen, wenn vieles im Überfluss vorhanden ist? Und wie viel braucht der Mensch eigentlich zum Leben?

„Unser Wirtschaftssystem ist darauf angelegt, alle Bedürfnisse zu befriedigen“, erklärt der Nachhaltigkeitsforscher Klaus Jacobs von der Freien Universität Berlin, einer der Redner auf dem Seminar. Wer alle Möglichkeiten habe  - Fliegen, Shoppen, Autofahren - würde nur ungern auf sie verzichten. In einer demokratischen Gesellschaft würde das auch niemand verlangen wollen oder können.

Die Kehrseite dieser Freiheit: Eine vom steigenden CO2-Ausstoß angetriebene Erderwärmung und Umweltzerstörung - trotz aller Technologiefortschritte. Nur zwei Tonnen CO2 pro Jahr dürfte jeder Mensch auf der Erde noch freisetzen, sagt Jacobs, damit das von der internationalen Staatengemeinschaft erklärte Zwei-Grad-Ziel bei der Erderwärmung ansatzweise erreicht würde. Zum Vergleich: Allein der deutsche Durchschnittsbürger pustet jährlich zehn Tonnen Treibhausgas in die Atmosphäre.

Die zahlreichen Kompensationsangebote, die Unternehmen anbieten, um Emissionen auszugleichen und sich und ihren Kunden so ein reines Gewissen zu verschaffen, sind in den Augen von Jacobs reine Grünfärberei. Den einzigen effektiven Weg für mehr Klimaschutz sieht der Forscher in einer Art Kreditkarte für CO2.

Sie würde für jede gekaufte Ware und Dienstleistung den Kohlenstoffdioxid-Ausstoß erfassen. Wer über zwei Tonnen kommt, für den ist erst mal Schluss mit Konsum. Dass das kaum durchzusetzen ist, weiß auch Jacobs.

Aufklärung statt ZwangBei der Frage, wie viel Konsum eigentlich angemessen ist, möchten Pia und Tobi niemanden missionieren. Ihr geldfreies Leben sei ein Experiment, das gut funktioniere und andere inspirieren soll, sagen sie. Natürlich gibt es auch kritische Fragen. Zum Beispiel, was sie machen, wenn einer krank wird? Noch sind Pia und Tobi über ihre Eltern krankenversichert.

Ihr Experiment scheint tatsächlich andere Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Auch jene, die das komplette Gegenteil von ihnen leben. So wie den Porsche-Cayenne-Fahrer, bei dem sie neulich per Anhalter mitfuhren. „Im Gespräch wurde schnell klar, dass er viele unserer Ansichten teilt. Tatsächlich hatte er auch mal ähnliche Träume wie wir“, sagt Tobi.

Um Tipps für den Alltag auszutauschen, halten Pia und Tobi engen Kontakt zu anderen „geldfreien" Menschen. In Deutschland gibt es ihren Schätzungen zufolge rund ein Dutzend von ihnen, die bewusst ohne Geld leben. Einer der Bekannteren ist der Berliner Raphael Fellmer, der schon mehrere Jahre keinen Euro anrührt und auch ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben hat.

Angst davor, einmal nicht mehr vom Überfluss der Gesellschaft leben zu können, haben Pia und Tobi nicht. „Das wäre doch großartig, wenn wir irgendwann feststellen, dass Bestehendes tatsächlich vollständig genutzt wird“, sagt Pia.

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