
WirtschaftsWoche: Herr Miegel, die Zahl der Erdenbewohner steigt, eine Milliarde Menschen hungern. Sind wir zum Wachstum verdammt?
Miegel: Zweifellos brauchen viele Hundert Millionen Menschen Nahrungsmittel, Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser. Sie sind auf Wachstum existenziell angewiesen. Das gilt aber längst nicht mehr für alle. Wir Deutschen beispielsweise benötigen nicht länger von allem mehr.
Sagen Sie das mal einem Niedriglohnbezieher.
Miegel: Auch er gehört heute zum wohlhabendsten Fünftel der Menschheit. Seine Kaufkraft ist so hoch wie die eines durchschnittlichen Einkommenbeziehers in den 1960er Jahren. Schlimm für ihn ist, dass er nicht mit den vielen Wohlhabenden mithalten kann.
Stillstand und Schrumpfung bedeuten Verlust an Lebensstandard. Warum sollten wir den freiwillig in Kauf nehmen?
Miegel: Was heißt freiwillig? Niemand wird uns fragen. Vielmehr werden wir von Jahr zu Jahr deutlicher feststellen, dass unser spektakulär hohes Wohlstandsniveau – es ist zehn Mal so hoch wie vor 100 Jahren – nicht zu halten ist. Denn das Wachstum, das uns diesen Wohlstand beschert hat, zerstört die Grundlagen seines eigenen Erfolgs. Für die heute wohlhabenden Völker kann deshalb die Zukunftsformel nur lauten: So viel Wachstum wie unbedingt nötig – und so wenig wie möglich.





Herr Paqué, brauchen wir zwei Wachstumsmodelle? Ein Modell für Entwicklungs- und Schwellenländer – und ein Modell für Industrienationen?
Paqué: Ich bin zunächst einmal froh, dass Herr Miegel dem ärmeren Teil der Welt – und damit 80 Prozent der Weltbevölkerung – Wachstum gönnt. Schade nur, dass er es den anderen 20 Prozent vorenthalten will. Warum nur? In den Industrieländern haben wir doch längst qualitatives Wachstum erreicht – ein Wachstum des Wissens, das uns Ressourcen und Umwelt schonende Produktionsverfahren beschert. Da frage ich mich schon, warum
Herr Miegel ausgerechnet bei uns das Wachstum ausbremsen will. Mit den Autos, die vor 30 Jahren über unsere Straßen rollten, werden wir die Erde bestimmt nicht retten.
Miegel: Ich wäre einverstanden, wenn ihre Aussage stimmte, dass Wachstum hierzulande eine bloßes Wachstum des Wissens sei. Zwar gibt es ein solches Wachstum, aber die Masse unseres Wachstums geht nach wie vor einher mit Ressourcenverbrauch und Umweltbeeinträchtigung. Würde die Menschheit so wirtschaften wie wir Deutschen, bräuchte sie 2,6 Erden. Wir sind also wirklich kein Vorbild. Doch weil uns viele nacheifern, verschlechtern sich die Lebensgrundlagen aller dramatisch. Auf diesem Pfad können wir nicht weiter marschieren.
Und auf welchen Pfad müssen wir Ihrer Meinung nach einbiegen?
Miegel: Auf den Pfad zukunftsfähiger Wohlstandsmehrung. Wachstum bedarf einer Art Unbedenklichkeitsbescheinigung. Denn nicht alles, was wächst, ist gut. Vieles ist sogar ausgesprochen schlecht. Die entscheidende
Frage ist daher: Welcher Wohlstand ist möglich, ohne dass Lebensgrundlagen beschädigt oder gar zerstört werden?
Paqué: Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass alles Positive in der Welt durch Wachstum erzielt wird. Und natürlich weiß ich, dass Wachstum die Menschen ab einem bestimmten Niveau nicht unbedingt glücklicher macht. Aber was daraus politisch folgt, ist offen. Die amerikanische Verfassung etwa garantiert den Menschen das „Verfolgen des Glücks“, nicht das Erreichen. In jedem Fall ist unbestreitbar, dass die Produktion in den Industriestaaten heute weniger Ressourcen verschlingt als früher. Auch steht für mich außer Frage, dass künftige Techniken noch schonender mit den vorhandenen Knappheiten umgehen werden. Die einzigen Systeme in der Geschichte, die sich nicht entwickelt haben, sind solche, die Marktsignale ignoriert haben. Der Kommunismus ist dafür das beste Beispiel. Der wollte die Menschen zu ihrem Glück zwingen und hat eine ökologische Katastrophe produziert.