Die Dimensionen der GM-Rückrufe sprengen jedes Maß: 29 Millionen Autos sind von den Qualitätsmängeln betroffen. GM ruft damit im ersten Halbjahr in den USA sieben Millionen Autos mehr in die Werkstätten zurück, als im gesamten letzten Jahr alle Autohersteller zusammen.
Rund 300 Menschen könnten durch die Mängel gestorben sein, so schätzten bislang US-Verbraucherschützer. Durch den jüngsten Rückruf von weiteren 8,4 Millionen Autos könnte die Liste der Opfer noch länger werden. Über zwei Milliarden Dollar muss GM nun aufwenden, um die technischen Mängel zu beheben. Weitere Milliarden werden wohl für Schadenersatzzahlungen an Opfer oder ihre Hinterbliebenen fällig.
Steht der US-Konzern, der erst vor fünf Jahren sein Insolvenzverfahren abschloss und neu durchstartete, schon wieder am Rand des Abgrunds? Könnte man meinen. Denn die Kosten der Rückrufe könnten in den kommenden Jahren die Gewinne zum großen Teil aufzehren. Und GM könnte kräftig Marktanteile verlieren: Die USA ist der wahrscheinlich am härtesten umkämpfte Automarkt der Welt. Ein gutes Dutzend hochmotivierter Konkurrenten freut sich über jede Hiobsbotschaft aus dem GM-Headquarter in Detroit und arbeitet längst an Maßnahmen zur Eroberung verunsicherter GM-Kunden.
General Motors: Chronologie der Zündschloss-Affäre
Die GM-Firmenveteranin Mary Barra wird Chefin. Sie ist die erste Frau, die einen Autokonzern führt.
GM ruft in Nordamerika die ersten 778.000 Wagen wegen Problemen mit den Zündschlössern zurück. Der Schlüssel kann bei voller Fahrt in die „Aus“-Position zurückspringen. GM berichtet von sechs Toten bei Unfällen.
GM weitet den Rückruf auf weltweit 1,6 Millionen ältere Wagen aus. Das Unternehmen räumt erste Versäumnisse ein. Nun ist die Rede von 13 Unfalltoten. Verbraucherschützer kommen auf weit höhere Zahlen.
Aus internen Vermerken geht hervor, dass GM-Ingenieure schon 2001 während der Fahrzeugentwicklung über Probleme mit den Zündschlössern berichteten. Es gehen die ersten Klagen von Unfallopfern und Autobesitzern ein.
GM ruft nun auch 1 Million Fahrzeuge neuerer Baujahre wegen der defekten Zündschlösser zurück. Damit steigt die Gesamtzahl alleine für diesen Defekt auf 2,6 Millionen.
Bei zwei Anhörungen im US-Kongress wird Barra scharf angegangen. Antworten auf die Kernfrage, warum GM so lange mit dem Rückruf der defekten Zündschlösser zögerte, hat sie jedoch nicht.
Es kommt zu ersten personellen Konsequenzen. Zwei Ingenieure werden beurlaubt. Es folgt eine Neuaufstellung der Entwicklungsabteilung. Mehrere Manager gehen.
GM erleidet einen Gewinneinbruch, nachdem sich die veranschlagten Kosten für die Reparaturen im ersten Quartal auf 1,3 Milliarden Dollar summiert hatten.
General Motors muss 35 Millionen Dollar an Strafe zahlen. Die Verkehrssicherheitsbehörde sieht es als erwiesen an, dass der Autobauer sie zu spät über die Zündschloss-Probleme informiert hat.
GM legt einen Untersuchungsbericht vor, der zahlreiche Schlampereien auflistet. 15 Mitarbeiter werden gefeuert. Barra verneint aber eine bewusste Vertuschung der Fehler. Opfer sollen entschädigt werden.
GM warnt vor Zündschloss-Problemen bei einer halben Million weiterer Wagen.
GM ruft 3,4 Millionen Limousinen wegen problematischer Zündschlösser in die Werkstätten. Nun sind 20 Millionen Wagen insgesamt von 44 Rückrufen betroffen. Die veranschlagten Kosten klettern auf 2 Milliarden Dollar (1,5 Mrd. Euro).
Doch so schlüssig dieses Horrorszenario für GM auch erscheint und so sehr das Unternehmen ein solches angesichts der vertuschten Schlampereien auch verdient hätte – realistisch ist es nicht. Denn amerikanische Autokäufer sind auch nur Menschen, und die sind häufig irrational, ziemlich träge, tendenziell patriotisch und mitunter erschreckend pragmatisch.
Irrationale Kunden: GM ist für die Amerikaner in etwa das, was VW für die Deutschen ist: Eine Ikone der heimischen Wirtschaft, der Inbegriff der nationalen Autoindustrie und ein Hersteller von nicht sonderlich aufregenden, aber alles in allem überzeugenden Autos. Mit knapp 19 Prozent Marktanteil ist GM mit deutlichem Abstand Marktführer vor Ford und Toyota. Dieses GM-Image ist trotz vorübergehender Insolvenz im Jahr 2009 weitgehend intakt und wird auch von den Rückrufen nicht ernsthaft beschädigt.
Der beste Beweis dafür: Seit Monaten haben die Rückrufaktionen praktisch keine Auswirkungen auf den GM-Absatz. Im Juni konnte der Konzern bei den Verkäufen erneut ein Prozent gegenüber dem Vorjahr zulegen und mit dem allgemeinen Branchenwachstum Schritt halten. Ford und VW – beide derzeit nicht von größeren Rückrufaktionen belastet und in puncto Qualität sicherlich eine sinnvolle Alternative zu GM – verloren im Juni 5,8 Prozent (Ford) beziehungsweise 9,8 Prozent (VW). Sollte sich VW neue Chancen im kriselnden US-Geschäft durch die GM-Probleme erhofft haben, so wird diese Rechnung wohl nicht aufgehen.
Patriotische und pragmatische Kunden
Patriotische Kunden: Naheliegend wäre ein Wechsel von GM-Kunden zu japanischen, koreanischen oder deutschen Automarken, die allesamt für herausragende Qualität und Zuverlässigkeit stehen. Doch viele GM-Kunden kaufen grundsätzlich nur amerikanische Automarken. Sie würden sich nur höchst ungern ein japanisches oder koreanisches Auto in die Garage stellen. GM mit seiner bewegten Geschichte bindet diese Kunden besonders. Denn anders als in Deutschland ist eine Insolvenz in den USA nicht nur ein Makel. Sie steht auch für die uramerikanische Geschichte vom Neuanfang in der neuen Welt. Die GM-Kunden glauben an diesen Neustart von GM und sie wollen das Unternehmen in dem verwegenen Plan, eines Tages „die besten Autos der Welt zu entwickeln, bauen und verkaufen“, unterstützen.
Pragmatische Kunden: Der US-Markt hat die wohl pragmatischsten Autokäufer der Welt. Gefragt sind durchschnittlich aussehende, leicht zu bedienende Autos mit niedriger Leasingrate. Stimmt der Preis und die allgemeine Anmutung und Bedienbarkeit, dann sind Qualitätsprobleme in der Vergangenheit eindeutig zweitrangig. Hinzu kommt, dass auch die beiden anderen großen Autobauer an der Weltspitze mit Qualitätsproblemen kämpfen: Toyota war im vergangenen Jahr der Hersteller mit den meisten Rückrufen. Und VW hat in den USA ohnehin kein gutes Qualitätsimage, was an früheren, anfälligen US-Modellen und schlechten Qualitätsrankings für die aktuellen US-Modelle liegt. Das lässt bei GM-Kunden die Einstellung reifen: Qualitätsprobleme hat jeder Hersteller – da sollte man den GM-Skandal nicht überbewerten.
Wie pragmatisch US-Kunden sein können, erleben gerade die GM-Händler in den USA. Sie nutzen die Rückrufe als Gelegenheit für Verkaufsgespräche und können nicht wenige Kunden davon überzeugen, ihre altes Auto nicht nur zur Reparatur, sondern gleich ganz abzugeben und im neuen GM-Wagen nach Hause zu fahren. Das ist die vielleicht bizarrste Tatsache im GM-Rückruf-Skandal: Die Affäre könnte den GM-Absatz in den USA sogar weiter ankurbeln.
GM ist sehr weit vom Abgrund entfernt. Die Aktionäre des Autobauers sehen das ähnlich. Der Kurs der GM-Aktie steigt seit April und ist mit rund 38 Dollar nicht mehr weit vom Allzeithoch entfernt.