
Michael Horn konnte nicht mehr – und er mochte auch nicht mehr. Seit dem 18. September vergangenen Jahres kämpft der 53-Jährige als Chef von Volkswagen of America darum, den guten Ruf des deutschen Autokonzerns in den USA wieder herzustellen und eine Einigung mit den US-Behörden im Skandal um manipulierte Abgaswerte von rund 485.000 Dieselfahrzeugen zu erzielen. Er hatte damit den wohl härtesten Job nicht nur im VW-Konzern, sondern auch in der Autoindustrie insgesamt – abgesehen vielleicht von Konzernchef Matthias Müller.
Und Horn stand seinen Mann. Er duckte sich nicht weg, hielt seinen Kopf hin, obwohl er als Vertriebsmann an den Tricksereien an der Motorsteuerung nachweislich nicht beteiligt war und nach den vorläufigen Ergebnissen der konzerninternen Untersuchungskommission erst Monate nach seinem Amtsantritt im Januar 2014 erste Hinweise auf den genannten Defeat Device, eine Abschalteinrichtung für die Abgasnachbehandlung, erhalten hatte.
Andere hätten sich in der Situation klein gemacht, das Feuer auf andere zu lenken versucht. Stattdessen stellte sich Horn wenige Tage nach Bekanntwerden des Skandals bei der Präsentation des neuen VW Passat in New York den Fragen der Presse und fand dabei im Unterschied zu seinen Kollegen in der Wolfsburger Konzernzentrale klare Worte: „Wir haben Mist gebaut.“ Ebenso aufrecht präsentierte er sich Anfang Oktober bei einer Anhörung durch Abgeordnete des US-Kongresshauses. Er hatte in der Runde aufgebrachter Politiker keine Chance, aber er nutzte sie.
Es folgten zähe, nervenaufreibende wie zeitraubende Gespräche mit den US-Umwelt- und Justizbehörden um technische Lösungen und Schadenersatz – und es hagelte immer wieder neue Nackenschläge. Ende Februar kündigten US-Anwälte an, auch zivilrechtlich gegen VW-Manager vorzugehen, gegen EX-Konzernchef Martin Winterkorn, seinen Nachfolger Müller, aber auch gegen Horn.
Der Boden wurde zu heiß für den Familienvater. Horn, berichten Insider, befürchtete langwierige Gerichtsverfahren in USA, an dessen Ende im schlimmsten Fall sogar seine Inhaftierung stehen könnte. Anfang März bat er deshalb die Konzernzentrale um seine Ablösung. Volkswagen versuchte den Vertriebsexperten zu halten, machte ihm verschiedene Angebote. Doch es war wohl nichts Passendes darunter, weshalb man sich schließlich auf eine einvernehmliche Vertragsauflösung einigte.
So könnte VW die "Dieselgate"-Kosten schultern
Der Abgas-Skandal kratzt nicht nur am Image des Volkswagen-Konzerns - er dürfte vor allem sehr teuer werden. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Kosten des Skandals und wie VW sie stemmen könnte.
Quelle: dpa
Darüber rätseln Beobachter derzeit. Bislang bekannt ist: Volkswagen hat 6,5 Milliarden Euro für Kosten aus dem Abgas-Skandal zurückgelegt. Das Geld ist aber wohl in erster Linie für eine technische Umrüstung der Autos mit Manipulations-Software bestimmt, wie Finanzchef Hans Dieter Pötsch laut dem Fachblatt „Automobilwoche“ kürzlich vor VW-Managern erklärte. Unklar ist, welche Strafzahlungen auf VW zukommen. Dazu dürften noch mindestens drei andere mögliche Kostenblöcke kommen: Strafzahlungen, Schadenersatzforderungen, Anwaltskosten. Wie hoch diese Ausgaben sein werden, lässt sich derzeit nur grob schätzen. Die Landesbank Baden-Württemberg rechnet derzeit mit einem Schaden von 47 Milliarden Euro für den Konzern. Ein möglicher Imageverlust und damit verbunden ein Rückgang der Autoverkäufe ist dabei noch nicht eingerechnet. Allerdings werden die Kosten wohl nicht auf einmal anfallen, sondern sich über Jahre verteilen.
Vergleichsweise viel. VW hat sich in den vergangenen Jahren ein stattliches Kapitalpolster zugelegt. Zur Jahresmitte hatte der Konzern rund 18 Milliarden Euro Bargeld auf dem Konto. Das ist mehr als ganze Dax-Konzerne wie Adidas oder Lufthansa einzeln an der Börse wert sind. „Über den Daumen gepeilt kann VW davon die Hälfte verwenden, um mögliche Kosten zu begleichen“, sagt Nord-LB-Analyst Frank Schwope. Dazu kommen bei VW noch schnell veräußerbare Wertpapiere über 15 Milliarden Euro und Schätzungen zufolge mindestens 5 Milliarden Euro aus dem Verkauf der Beteiligungen am ehemaligen Partner Suzuki und an einer niederländischen Leasingfirma.
Das ist sehr unwahrscheinlich. VW könnte sich über Anleihen und Kredite Geld leihen, auch wenn einige Ratingagenturen ihre Bewertungen der Kreditwürdigkeit des Konzerns zuletzt angepasst hatten. Wenn es irgendwann hart auf hart käme, könnte Volkswagen immer noch sein Tafelsilber verkaufen. Am einfachsten ließen sich wohl die Luxusmarken Bentley, Bugatti und Lamborghini aus dem Konzern herausnehmen. Nord-LB-Analyst Schwope schätzt den möglichen Verkaufserlös für die drei Marken und den Motorradhersteller Ducati auf 5 bis 10 Milliarden Euro. Durch einen Verkauf der Lastwagenbauer MAN und Scania ließen sich nach seinen Berechnungen sogar 30 bis 35 Milliarden Euro erzielen. Das wertvollste Juwel in der Sammlung, den Sportwagenbauer Porsche, dürften die VW-Anteilseigner kaum abgeben wollen.
Nur begrenzt. Eine Kapitalerhöhung - also die Ausgabe neuer Aktien - ist bei VW nicht so leicht wie in anderen Konzernen. Damit die Familien Porsche und Piëch sowie das Land Niedersachsen als Anteilseigner ihre Macht im Konzern nicht verlieren, darf sich deren jeweiliger Anteil an den Stammaktien nicht stark verringern. Vor allem Niedersachsen dürfte aber derzeit kaum ein Interesse daran haben, weitere Stammaktien zu kaufen und Geld in den VW-Konzern zu stecken. VW könnte deshalb wohl höchstens neue Vorzugsaktien ausgeben, das sind Aktien ohne Stimmrecht auf der Hauptversammlung des Konzerns. Laut Aktiengesetz darf die Zahl dieser Vorzugsaktien die Zahl der Stammaktien allerdings nicht übersteigen. VW könnte deshalb höchstens rund 114 Millionen neue Aktien ausgeben und damit auf Basis derzeitiger Kurse rund 11 Milliarden Euro einsammeln.
In der Regel setzen Sparmaßnahmen bei großen Konzernen zuerst bei den Mitarbeitern an: Weniger Gehalt, Einstellungsstopps, bis hin zu Stellenstreichungen und Entlassungen. Bei Volkswagen wäre das allerdings nicht so einfach. Die Arbeitnehmervertreter haben in Wolfsburg deutlich mehr Macht als in anderen Konzernen. Einfacher wäre die Kürzung geplanter Investitionen. Hier hatte Volkswagen angepeilt, bis 2019 eine Summe von mehr als 100 Milliarden Euro in Standorte, Modelle und Technologien zu stecken. Laut Experte Schwope könnte VW hier den Rotstift ansetzen und so 2 Milliarden Euro jährlich sparen, vor allem bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Nur: Dann besteht die Gefahr, von der Konkurrenz abgehängt zu werden. Der Zeitpunkt wäre denkbar ungünstig - die Autoindustrie steht durch Digitalisierung und Elektroantriebe vor einem Umbruch.
Und nun? Als Not- und Übergangslösung soll der frühere BMW-Manager und bisherige Nordamerika-Chef Hinrich J. Woebcken zusätzlich Horns Aufgabe als Präsident und CEO von Volkswagen of America übernehmen. Doch hinter den Kulissen läuft weiter die Suche nach einem neuen „Mister America“.
US-Kandidaten sagen ab
Ursprünglich war der frühere Skoda-Chef Winfried Vahland für diesen heißen Stuhl vorgesehen gewesen. Doch der hatte noch vor dem Amtsantritt das Weite gesucht. Volkswagen würde gerne einen Amerikaner mit guten Kontakten in die Politik engagieren. Aber alle Kandidaten, die angesprochen wurden, haben bislang abgewunken – zu schwierig die Aufgabe, zu groß die Gefahr, dabei verbrannt zu werden.
Was bei der Rückruf-Aktion auf VW-Besitzer zukommen könnte
Das Kraftfahrtbundesamt hat angeordnet 2,4 Millionen VW-Diesel-Fahrzeuge in die Werkstätten zurückzurufen. Laut Plan sollen im Januar 2016 die ersten Autos in die Werkstätten. Bis zum Ende des kommenden Jahres könnten dann alle betroffenen Autos überholt sein. In einem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hatte VW-Chef Matthias Müller aber zuvor auch nicht ausgeschlossen, manche Autos komplett auszutauschen, anstatt sie umzurüsten: „Das muss man im Einzelfall prüfen.“
Es geht bei den Nachbesserungen nicht nur um die Manipulations-Software. Für die meisten Motoren genüge es zwar, wenn ein neues Programm aufgespielt werde, sagte Müller. Manche Autos könnten aber auch neue Einspritzdüsen und Katalysatoren bekommen. Die Umrüstung ist auch deshalb kompliziert, weil der betroffene Motortyp EA 189 in zahlreichen Kombinationen und Ländervarianten verbaut ist. Motorenexperte Prof. Jörn Getzlaff von der Hochschule Zwickau hält es aber für möglich, dass Volkswagen keine komplett neue Technik entwickeln muss: „Es kann durchaus sein, dass VW auf eine Lösung zurückgreift, die der Konzern schon heute in seine neue Motorengeneration einbaut.“ Diese neuen Aggregate erfüllen die strengeren Umweltauflagen der Euro-6-Norm.
Das ist möglich. Durch die Umrüstung könnten sich die Leistung und der Spritverbrauch ändern, sagt Getzlaff. Es müsse aber nicht unbedingt so sein, dass das Auto dann langsamer wird und mehr verbraucht. VW-Chef Müller sagte, es sei wichtiger, „das CO2-Ziel zu halten und dafür vielleicht auf 3 bis 5 km/h Höchstgeschwindigkeit zu verzichten“.
Autokäufer müssten sich vermutlich zunächst mit dem Verkäufer des Autos streiten - in den meisten Fällen also mit dem Händler, nicht mit dem VW-Konzern, erklärt Thomas Rüfner, Rechtsprofessor an der Universität Trier. Es sei möglich, dass der Händler Autos zurücknehmen müsse. Dafür müssten aber einige Voraussetzungen erfüllt sein: erhebliche Mängel, also dass das Auto nach der Umrüstung zum Beispiel deutlich langsamer fährt oder viel mehr Sprit verbraucht. Der Kauf darf auch nicht länger als zwei Jahre zurückliegen. „Der Autokäufer würde vermutlich den kompletten Kaufpreis zurückbekommen, müsste aber wohl nachträglich für die Nutzung des Autos zahlen“, sagt Rüfner. Wenn sich die Fahreigenschaften des Autos nur in geringem Maße ändern, könne aber der Kaufpreis gemindert werden.
Eine VW-Kundin, die ihr Auto im Jahr 2010 gekauft hat, versucht das bereits. Sie hat eine Klage direkt gegen den VW-Konzern eingereicht, unter anderem wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung. Die Frau sehe sich in ihrer Erwartung enttäuscht, ökologisch unterwegs zu sein, teilte ihr Anwalt mit. Ein VW-Sprecher wollte sich zu der Klage zunächst nicht äußern, der Vorgang sei ihm nicht bekannt.
Dazu hat sich VW bislang nicht geäußert. Autohersteller sind dazu jedenfalls nicht gesetzlich verpflichtet, sagt Gabriele Emmrich von der Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt. Andere Autohersteller wie Toyota hatten einen solchen Service bei Rückrufen in der Vergangenheit schon angeboten, allerdings ging es da um weniger Autos als bei Volkswagen. Emmrich zufolge stellen Händler und Hersteller nur in Ausnahmefällen ein Leihauto zur Verfügung.
Denn die Lösung des Konflikts mit den US-Umweltbehörden ist noch nicht in Sicht. Erst am Dienstag war VW-Einkaufs-Vorstand Francisco Javier Garcia Sanz erneut in Washington, um die Lage zu sondieren und neue Vorschläge zu unterbreiten, für die technische Abwicklung der Rückrufaktionen und auch Kompensationen für die betroffenen Autofahrer.
US-Behörden bestehen auf „Goodies“
Wie aus Konzernkreisen zu erfahren ist, bestehen die US-Behörden auf einer Paketlösung: Mit dem Einbau neuer Katalysatoren beim „großen“ 3,0-Liter-TDI und einem Software-Update für den 2.0 TDI, mit denen die kleinere Dieselfahrzeuge die aktuell gültigen Abgasgrenzwerte erfüllen würden, ist es nicht getan. Die Amerikaner wollen zusätzliche „Goodies“ sehen, zusätzliche Maßnahmen zur Abgasreinigung, den Rückkauf einiger Tausend älterer Fahrzeuge, aber auch den Kauf von Verschmutzungsrechten und einen symbolischen Akt der Wiedergutmachung: den Bau eines Elektroautos in Großserie in USA.
Letzteres trifft bei Konzernchef Müller auf keinen Widerstand: „In die Richtung wollen wir ohnehin gehen – das ist eine Option“, erklärte er auf dem Genfer Autosalon im Gespräch mit der WirtschaftsWoche. Aber um die anderen Maßnahmen wird weiter gerungen.
Und VW hat wenig Verhandlungsspielraum. Fest steht schon jetzt: „Es wird sehr, sehr teuer“, so ein Insider. Und VW läuft allmählich die Zeit davon. Der Termin für die Hauptversammlung der VW-Aktionäre wurde mittlerweile auf den 22. Juni gelegt. Viel später geht es nicht mehr, um die Jahresbilanz 2015, wie vom Aktiengesetz vorgeschrieben, noch termingerecht – bis zum Ende des achten Monats das darauffolgenden Geschäftsjahrs – prüfen und testieren zu können.
Nein, mit dem Abgang von Horn ist kein einziges Problem von VW gelöst, sind die Nöte nur noch einmal größer geworden. Und die Zukunft des Konzerns ist ungewisser denn je.