Volkswagen Danke für den Dieselskandal, Martin Winterkorn!

Auftakt des VW-Strafprozesses in der Stadthalle von Braunschweig. Quelle: dpa

Die Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen des VW-Dieselskandals haben begonnen. Ein guter Zeitpunkt für ein Dankeschön an Ex-Volkswagen-Chef Winterkorn: Er ist für den größten deutschen Wirtschaftsskandal mitverantwortlich – und damit für einen Aufbruch in der Autoindustrie von historischem Ausmaß. Und nein, das ist keine Ironie. Ein Kommentar.

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Sechs Jahre nach dem Bekanntwerden des Dieselskandals bei Volkswagen hat die strafrechtliche Aufarbeitung begonnen. Während in den USA mancher Dieselstraftäter schon bald seine Haftstrafe abgesessen hat, beginnt man in Deutschland gerade mal mit dem Prozess. Das wäre ein Witz, wenn es nicht so traurig wäre. Deutschland steht, sechs Jahre nach dem Skandal, vor einem Scherbenhaufen: Die strafrechtliche Aufarbeitung verschleppt, das Image der deutschen Autobauer ramponiert, der Diesel angezählt, tausende daran hängende Arbeitsplätze bei Zulieferern vernichtet, zweistellige Milliardensummen bei Volkswagen, Daimler und BMW pulverisiert.

Und an allem ist Winterkorn schuld? Nun – das muss erst noch das Gericht klären. Klar ist aber, dass er nicht der einzige Automanager war, der den deutschen Diesel in ein weitaus schöneres Licht rückte, als es angebracht gewesen wäre. Dieselmanipulation – manchmal gerade noch legal, manchmal illegal – war Branchensport. Aber erst durch Winterkorns bewusstes oder unbewusstes Übersehen konnte im VW-Konzern der Skandal zu diesen schwindelerregenden Dimensionen heranreifen. Nur weil in Winterkorns Amtszeit die US-Behörden so lange und so dreist belogen wurden, fielen die Strafen und Schadenersatzzahlungen in USA so astronomisch hoch aus.

Genau damit erwies Winterkorn – sicherlich unbeabsichtigt – seinem Konzern und der ganzen Branche einen großen Dienst: Der Dieselskandal wurde zur bunkerbrechenden Super-Bombe mit einer Sprengkraft von vielen Milliarden Euro, der die Branche in dem Maß erschüttern konnte, wie es nötig war.

Die deutsche Leitindustrie war zwar hoch profitabel, aber wohl gerade deshalb selbstgefällig, satt, ineffektiv, verfilzt, verkleistert und – was die Transformation hin zu emissionsfreien und digitalen Autos angeht – innovationsfeindlich. Motto: Wir sind die Besten – und wo es nicht so ist, zum Beispiel bei den Dieselemissionen, tun wir so. Keiner stand so sehr für diese Autoindustrie wie Winterkorn. „Das Auto“ war sein eitler Werbeslogan für Volkswagen. Es wurde daraus „Die Lüge“ und „Der Skandal“.

Aber zum Glück für Volkswagen, darf man rückblickend sagen: Noch 2015, im ersten Skandaljahr, gab der VW-Aufsichtsrat grünes Licht für ein neue, milliardenschwere Elektroauto-Strategie mit dazugehöriger E-Auto-Plattform, die heute die technische Basis bildet für die wichtigsten elektrischen Modelle des Konzerns. Milliarden fürs zumindest lokal emissionsfreie Fahren als Antwort auf den Emissionsskandal – nur so kam das Tempo in die Elektro-Strategie, die Volkswagen bei diesem Thema ins Spitzenfeld der Branche katapultiert hat.

Und so disruptiv ging es weiter bei der Volkswagen, mit neuen Milliarden für den Wandel, mit neuem Spitzenpersonal, das – anders als Winterkorn – das elektrische Fahren sehr ernst nahm, da aber nicht steht blieb, sondern längst schon die nächste technologische Revolution, das autonome Fahren in Angriff genommen hat. VW mit Tesla-Geist – ohne Dieselgate undenkbar.

Der Wandel geht weit über die Technik hinaus: VW versucht mit großem Aufwand bei der Compliance besser zu werden und hat, trotz aller Schwächen, auch Fortschritte gemacht. Vor allem aber fällt bei der Kultur auf: Es wird freier geredet im Konzern. Die von Winterkorn und vom inzwischen verstorbenen Patriarchen Ferdinand Piech verbreitete, lähmende Angst gibt es in dieser Form nicht mehr. Der Deckel ist weg. Und es wäre überraschend, wenn das nicht ungeahnte Kräfte freisetzen würde.

Was sich bei dem mit Abstand größten Spieler in der deutschen Autoindustrie tut, kann nicht ohne Folgen bleiben bei den anderen Autobauern und den Zulieferern. VW reißt bei der Transformation die anderen mit und so entsteht eine neue Branche.

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Seit dem Dieselskandal ist die Autoindustrie nicht mehr so homogen wie sie einmal war, spricht weniger denn je mit einer Stimme, kann sich immer schwerer auf gemeinsame Positionen einigen, die dann der Verband der Automobilindustrie (VDA) zu vertreten hat. Grund sind Schuldzuweisungen, Zerwürfnisse und Kartellermittlungen in Folge des Skandals, aber auch unterschiedliche Ausgangslagen der Hersteller bei der anstehenden Transformation.

Auch hier gilt: Was zunächst wie eine Schwäche aussieht, dürfte sich als Stärkung entpuppen. Statt gemeinsam für den Diesel zu lobbyieren, obwohl man sich dessen Emissionsprobleme sehr bewusst war, ringt heute jeder Hersteller und Zulieferer um die aus seiner Sicht besten Lösungen: Nur E-Autos (VW, Daimler) oder auch Wasserstoff-Autos (BMW)? Kohleausstieg am besten übermorgen (VW) oder lieber noch Diesel subventionieren (BMW)? Batterien selbst produzieren (VW, Daimler) oder lieber nicht (Bosch, Continental)? Betriebssystem fürs Auto selbst schreiben (VW) oder gemeinsam als deutsche Autobauer (BMW)? Es wird gerungen und gestritten, was aber gut ist. Denn es gilt: Innovation statt Kadertreue. So lebendig wie heute war die Autoindustrie schon lange nicht mehr, womöglich noch nie.

Martin Winterkorn hat es sicherlich immer gut gemeint mit der deutschen Autoindustrie. Aber eben nicht immer gut gemacht. Er hinterließ einen bösen Schlamassel, der aber erstaunlich positive Folgen hat. „Das Leben ist“, hat Forrest Gump gesagt, „wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man kriegt.“

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