Jahrestag Lehman-Pleite "Banken warfen alle Regeln der Kreditvergabe über Bord“

Am 15.September jährt sich die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers zum achten mal. Dieser Moment gilt seither als der offizielle Ausbruch der Finanzkrise. Gekriselt hatte es aber schon in den vorausgehenden Monaten, wenn nicht gar Jahren. Ein Interview mit dem Finanzexperten und Autor Johannes Schlütz über das Entstehen der Krise, die keineswegs wie ein Naturereignis über die Finanzwelt hereinbrach.

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Lehman-Brothers-Zentrale am 15. September 2008. Quelle: AP

Der Finanzmarktkrise sind besonders in den USA Entwicklungen vorausgegangen, die offensichtlich gefährlich waren und trotzdem von Politikern, Zentralbankern und Bankvorständen toleriert wurden. Wie konnte es  dazu kommen?

Johannes Schlütz: Richtig klar wird das Bild erst dann, wenn man auf den  Beginn der 1990er-Jahre schaut. 1992 unterzeichnete der damalige US-Präsident George Bush sen. ein Gesetz, das die Ausgabe von Hypothekenkrediten auch an die untersten Einkommensschichten erleichtern sollte. Damit war der Grundstein für das spätere Desaster gelegt, wenn auch zunächst sicherlich unbeabsichtigt.

Welche Folgen hatte dieses Gesetz genau?

Traditionelle Regeln für die Vergabe von Hauskrediten wurden nach und nach außer Kraft gesetzt. So wurden z.B. unter Präsident Bill Clinton im Jahr 1994 die Eigenkapitalanforderungen für Immobilienkredite von 20 Prozent auf ein historisches Minium von nur noch 3 Prozent abgesenkt. Das heißt: Wenn jemand ein Haus für 100.000 Dollar kaufen oder bauen wollte,   musste er bis zu diesem Zeitpunkt eigene Mittel in Höhe von mindestens 20.000 Dollar vorweisen. Durch die neue Vorschrift waren es plötzlich nur noch 3.000 Dollar. Und es gab noch andere Entwicklungen, die den späteren Immobilienboom begünstigten, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht direkt damit im Zusammenhang stehen.

Zur Person

Welche?

Unter Bill Clinton wurden die Regulierungsvorschriften für US-Geschäftsbanken immer weiter gelockert. Ab 1994 durften diese erstmals auch Filialen außerhalb ihres eigenen Herkunftsstaat aufmachen. Versprachen expansionswillige Geschäftsbanken den Zulassungsbehörden einer Region,  dort auch an möglichst viele einkommensschwache Bürger Kredite für den Hausbau zu vergeben,  wurde ihnen der Zutritt zu der betreffenden Region erheblich erleichtert.

Warum bekamen auch einkommensschwache Haushalte systematisch  immer einfacher Hypothekenkredite?

Sowohl die Regierungen unter George Bush sen., als auch unter Bill Clinton und  George Bush jun. verfolgten die politische Maxime, möglichst vielen Amerikanern den Traum vom Eigenheim zu erfüllen. Um das zu erreichen, drehten deren Administrationen über rund zehn Jahre an  vielen Stellschrauben.

Immobilienkredite wurden dann in hypothekenbesicherte Anleihen, gebündelt, den sogenannten Mortgage-Backed-Securities.  Warum, und wie funktionierte das? 

Die großen öffentlichen Immobilienbanken der USA…

Fannie Mae und Freddie Mac…

…kaufen Hypothekenkredite von den Geschäftsbanken vor Ort auf. Die Kreditnehmer zahlen ihre monatlich Zins und Tilgung nicht mehr an ihre Hausbank, sondern an die öffentlich-geförderten Großinstitute. Diese fassen die Zahlungsströme zu neuen Wertpapieren zusammen und verkaufen die Papiere an Investoren in der ganzen Welt.

Unter anderem an deutsche Banken.

Genau. Weil diesen neuen Wertpapieren Zahlungsströme aus Hypothekenkrediten zugrunde liegen, nennt man sie hypothekenbesicherte Schuldverschreibungen oder Anleihen, im Englischen Mortgage-Backed-Securities, kurz MBS. Sie haben den großen Vorteil, dass die kleineren Banken vor Ort durch den direkten Weiterverkauf von Krediten immer wieder neue Immobilienkredite vergeben und die Risiken eines Kreditausfalls auf Anleger, also auf die die Inhaber der MBS abwälzen können.

300.000 Dollar für eine Bruchbude

Was lief dann schief?   

Die Standards, die Kredite für einen Ankauf durch Fannie Mae oder Freddie Mac erfüllen mussten, waren über Jahrzehnte sehr hoch. Ab den 1990er-Jahren wurden sie  aus den beschriebenen politischen Gründen permanent gelockert. Die  Kredite wurden immer riskanter – und mit ihnen  die MBS, deren Erträge ja direkt von den zugrunde liegenden Krediten abhingen.

Wann kippte das Ganze?

Spätestens, als die Banken vor Ort beziehungsweise  deren  Mitarbeiter in den Kreditabteilungen für die Menge an abgeschlossenen Kreditverträgen bezahlt wurden – und nicht mehr auf Basis der Kreditqualität. Sie warfen bei der Vergabe von Hypothekenkrediten alle traditionellen Grundsätze über Bord. Sie konnten das tun, weil die öffentlichen Förderbanken immer laxere Anforderungen an die Kredite stellten.

Und dann kamen die Investmentbanken ins Spiel?

Ja. Ab Ende der 1990er-Jahre entdeckten die Investmentbanken, welche Gewinnchancen die MBS-Konstruktionen bargen. Sie bündelten die Kredite, machten daraus Wertpapiere, verbrieften sie also und verkauften sie weiter - und das massenhaft. Im Immobilienboom ab dem Jahr 2003 zählte nur noch Masse statt Klasse. Beleihungsgrenzen, die im traditionellen Bankmodell bei 60 Prozent des Objektwertes lagen, spielten plötzlich keine Rolle mehr. Kreditnehmern war es auf dem  Höhepunkt des Immobilienbooms sogar möglich, deutlich mehr Fremdkapital per Hypothekenkredit aufzunehmen, als für den Erwerb oder den Bau einer Immobilie benötigt wurde oder  als die Objekte wert waren.

Also die berühmten 300.000 Dollar für eine Bruchbude.

Genau. Die Banken vor Ort konnten die Kredite und das Risiko ja weiterreichen, und so fielen alle Hemmungen. Sie vergaben sehr riskante Kredite, die in normalen Zeiten nicht einmal die erste Hürde der internen Kreditprüfung überstanden hätten. Die wurden weitergereicht, und am Ende der Kette standen Investoren und Banken wie Lehman.

Im Film „The Big Short“ , der nach dem Bestseller von Michael Lewis mit Christian Bale und Brad Pitt gedreht wurde, wird erfolgreich auf einen Zusammenbruch dieses Systems gewettet. Die Signale sind offensichtlich. So kann sich eine Bardame gleich mehrere Immobilien leisten. Ist das realistisch?

Das mag man zunächst nicht glauben, ist aber in sehr ähnlicher Form in den USA vorgekommen. Es gab Kreditformen, die es  Leuten mit sehr geringem Einkommen ermöglichten,  teure Immobilien zu kaufen.  Sie bekamen sehr viele Jahre laufende Kredite ohne jegliche Tilgungsverpflichtung bis zur Fälligkeit.

Warum machten die Banken das?

Weil sie davon ausgingen, dass der Immobilienboom noch Jahre anhalten würde und die Objekte am Ende viel teurer verkauft werden könnten, falls der Schuldner seinen Kredit nicht mehr bedienen kann. Die  Hypothekenkredite hatten sehr niedrige Einstiegszinssätze  und danach eine variable Verzinsung für zum Beispiel 28 Jahre. Solche Kredite konnten aufgrund der zunächst sehr geringen monatlichen Belastung von fast jedermann aufgenommen werden. Gleichzeitig bargen sie das enorme Risiko, dass die Leitzinsen durch die Notenbank angehoben würden und die späteren Zinszahlungen für die Hypothekenkredite dann deutlich über den ursprünglichen  Lockzinssätzen  liegen. Das führt gerade bei Kreditnehmern mit nur geringem Einkommen  zur sofortigen Zahlungsunfähigkeit. Auch das beschreibt der Film: tausende von privaten Hypothekenschuldnern gehen pleite, als die Notenbank den Leitzins über einen relativ kurzen Zeitraum mehr als verdoppelt.

War die Krise vorhersehbar? 

Sagen wir es so: Der US-Immobilienboom hat  ein Vorbild, nämlich die Krise der amerikanischen Sparkassen zum Ende der 1980er-Jahre. Auf deren Höhepunkt fuhren die Vorstände kleiner Ortsbanken auffällig große Rolls-Royce. Im aktuellen Film können sich kleine Kreditvermittler vor Ort am Ende große Yachten und vollkommen unverhältnismäßige Luxusurlaube leisten. Wer auf solche Zeichen achtet, wird die Vorboten der nächsten Finanzkrise möglicherweise erkennen.

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