Deutsche Bahn Fronten verhärtet: Bald wird gestreikt

Bahn und EVG hatten 2020 einen Tarifvertrag geschlossen. Die GDL fordert aktuell mehr Lohn und Freizeit für ihre Leute. Über allem schwebt aber der Konflikt um das Tarifeinheitsgesetz. Quelle: dpa

Der Gesprächsfaden zwischen den Bahngewerkschaften EVG und GDL ist gerissen. Derweil veröffentlicht die Deutsche Bahn Zahlen, welche Arbeitnehmervertretung künftig den Ton angibt – der Boden für Streiks ist bereitet.

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Um zu verstehen, wie sehr die Bande zwischen den beiden Bahngewerkschaften strapaziert sind, reicht ein Blick auf zwei Schreiben, die sich die Chefs der zerstrittenen Organisationen vor Kurzem geschickt haben. Da ist zum einen Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), der den Fehdehandschuh Mitte März überraschend noch einmal kurz beiseite legen wollte. „Lieber Klaus-Dieter“, schrieb er und unterbreitete ein Gesprächsangebot. Der angesprochene Klaus-Dieter Hommel, Chef der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), reagierte dünnhäutig und antwortete distanziert mit: „Sehr geehrter Herr Weselsky“. 

Die GDL ist noch beim „Du“, die EVG längst beim „Sie“. Und auch sonst ist die Antwort der EVG von Mitte März in Ton und Inhalt kategorisch ablehnend. Den Wunsch der GDL, die EVG über Umwege zu Verhandlungen mit dem Bahn-Management an einen Tisch zu bekommen, könne man „nicht erfüllen“, schrieb EVG-Chef Hommel. Die EVG sehe sich „außerstande, die Auseinandersetzung zwischen der GDL und der Deutschen Bahn AG zu schlichten“.

Damit ist die Basis für ein Gespräch endgültig vom Tisch, der Streit eskaliert. Streiks der Lokomotivführer werden immer wahrscheinlicher.

von Christian Schlesiger, Rüdiger Kiani-Kreß

Bahn und EVG hatten 2020 einen Tarifvertrag geschlossen. Die GDL fordert aktuell mehr Lohn und Freizeit für ihre Leute. Über allem schwebt aber der Konflikt um das Tarifeinheitsgesetz, das die Bahn seit Januar anwendet und das die GDL unmittelbar bedroht. Laut Gesetz ist in einem Bahnbetrieb, dessen Mitarbeiter in mehreren Gewerkschaften organisiert sind, künftig nur ein Tarifvertrag gültig, und zwar der Vertrag der Gewerkschaft, die in dem Betrieb „die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat“. Rund 70 Betriebe im Fern-, Regional- und Güterverkehr der Bahn gibt es, in denen beide Organisationen um Mitglieder werben. 

Die Abfuhr der EVG lässt die GDL in der Position zurück, in die sie sich selbst manövriert hat: im Abseits. Im Nachgang der Schreiben hat die Deutsche Bahn außerdem angekündigt, das Tarifeinheitsgesetz ab April tatsächlich in voller Konsequenz zur Anwendung zu bringen. Und nun zeigt sich: In 55 Betrieben vertritt die EVG die Mehrheit der dort Beschäftigten, in 16 Betrieben gelten künftig die Tarifverträge der GDL. Die Mehrheitsverhältnisse ließ die Bahn in den vergangenen Wochen etwa anhand der Ergebnisse von Betriebsratswahlen recherchieren. Damit kann die GDL aber nur noch für 16 Betriebe einen neuen Tarifvertrag aushandeln. Zumindest theoretisch.

In der Praxis dürfte die GDL die Ergebnisse anfechten. Außerdem dürfte sich die GDL jetzt erst recht motiviert fühlen, die nächsten Schritte einzuleiten. Dazu zählt auch, weiter um neue Mitglieder zu werben – etwa, indem sie einen guten Tarifabschluss erzielt. Denn der Konflikt um das Tarifeinheitsgesetz fällt mitten in die Phase der neuen Tarifrunde.

Neben 4,8 Prozent mehr Geld rückwirkend ab März und 1300 Euro Coronaprämie fordert die GDL mehr Freizeit, etwa fünf Tage Coronaurlaub in 2021, und elf Tage extra pro Jahr für alle Arbeitnehmer ab 55 Jahre. Damit würde der Jahresurlaub teils auf mehr als drei Monate steigen. Die Bahn lehnt das als zu teuer ab. Schon heute können Lokführer, Zugbegleiter und Bistromitarbeiter bis zu 42 Tage im Jahr Urlaub machen.

Von dem Wahlmodell machen übrigens immer mehr Beschäftigte Gebrauch. Lokführer, Zugbegleiter und Bistromitarbeiter haben derzeit unabhängig davon, ob sie nach EVG- oder GDL-Tarifvertrag arbeiten, je nach Betriebszugehörigkeit 28 bis 30 Tage Erholungsurlaub. Im Rahmen eines Wahlmodells zur Arbeitszeit können Arbeitnehmer jährlich zwischen sechs verschiedenen Modellen wählen, unter anderem können sie zwischen sechs oder zwölf Tagen zusätzlichem Erholungsurlaub im Jahr wählen. Damit ergeben sich in Summe bis zu 42 Tage Erholungsurlaub.

Bei erstmaliger Einführung im Jahr 2018 entschieden sich rund 56 Prozent der wahlberechtigten Arbeitnehmer für den zusätzlichen Erholungsurlaub. 2020 waren es bereits rund 60 Prozent, die sich für sechs Tage Extra-Urlaub entschieden. In diesem 2021 wurden es noch mehr: Es standen Wahlmöglichkeiten mit sechs oder zwölf Tagen zusätzlichem Erholungsurlaub frei. „Insgesamt haben sich circa 68 Prozent der Arbeitnehmer für eines dieser Urlaubsmodelle entschieden, davon 39 Prozent für zwölf Tage zusätzlichem Erholungsurlaub“, heißt es bei der Bahn.

Für die Bahn sind solche Modelle ein finanzieller und logistischer Kraftakt. Ein erhöhter Urlaubsanspruch sei für die Personaldisposition ähnlich zu handhaben wie die Disposition von Teilzeit-Beschäftigten. „Die Schichtpläne werden von unterschiedlichen Urlaubsansprüchen als solche nicht berührt, sie wirken aber auf die insgesamt verfügbare Personalkapazität.“ Durch die höheren Urlaubsansprüche entstehe ein zusätzlicher Personalbedarf in den Gesellschaften. Im Jahr 2018, bei Ersteinführung des Wahlmodells zur Arbeitszeit, mussten rund 1500 Arbeitnehmer zusätzlich eingestellt werden.

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Wie es nun weitergeht, entscheidet die GDL. Dass sie milder wird, ist unwahrscheinlich. Sie fühlt sich in ihrer Existenz bedroht. Für Personalchef Martin Seiler sei das Verhalten der GDL „unsolidarisch“ und: „Ein Klassenkampf von gestern.“

Mehr zum Thema: Nie zuvor rangen die beiden Bahn-Gewerkschaften GDL und EVG so hart um neue Mitarbeiter. Der Streit offenbart die tiefe Spaltung der Belegschaft bei der Deutschen Bahn. Was sich die beiden Gewerkschaftsbosse vorwerfen.

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