Vor dem Hafen Ningbo-Zhoushan liegen dutzende Schiffe vor Anker. Sie treiben in der Bucht und rund um die vorgelagerten Inseln. Wer auf Analyseseiten wie MarineTraffic die Position der Schiffe nachverfolgen will, sieht jede Menge grüne Punkte im seichten Wasser vor den Inseln. Jeder Punkt steht für ein Schiff. Viele davon haben sich seit Tagen nicht bewegt, einige sogar seit Wochen nicht. Sie warten auf neue Aufträge. Der Grund: Das grassierende neue Coronavirus.
Die wirtschaftlichen Einschränkungen durch die Epidemie mit dem Virus SARS-CoV-2 bedeuten für die Handelsschifffahrt fast so große Einschnitte wie die Finanzkrise. Das geht aus einer Analyse des Branchendienstes Alphaliner über die zur Zeit unbeschäftigte Flotte hervor: Schiffe mit einer Kapazität von 2,4 Millionen Standardcontainern haben ihre Fahrten gestoppt und liegen ohne weiteres Ziel vor Anker. Gemessen an der Kapazität ist das sogar mehr als 2009 während der Finanzkrise: Damals waren Handelsschiffe mit einer Kapazität von 1,52 Millionen Standardcontainern unbeschäftigt.
Prozentual gesehen ist der Anteil der Handelsschiffe ohne Beschäftigung aktuell jedoch etwas kleiner: In der Finanzkrise traf die Flaute 11,7 Prozent der gesamten Handelsflotte. Heute sind es nach Berechnungen von Alphaliner nur etwa 8,8 Prozent. Der Grund: Im vergangenen Jahrzehnt wurde durch neue, größere Schiffe die weltweite Kapazität auf fast 23 Millionen Standardcontainer aufgestockt.
Die Zahlen zeigen die Dimension der wirtschaftlichen Einschränkungen durch das Coronavirus. Die Containerschifffahrt gilt als Indikator für den Welthandel, etwa 80 Prozent aller Güter werden über die Meere transportiert. Ningbo-Zhoushan ist der drittgrößte Hafen der Welt – mittlerweile liegen sieben der Top Ten in China. Wenn dort kein Handel stattfindet, dann ist das kein gutes Zeichen für den Welthandel.
Beinahe alle Reedereien haben in Folge der chinesischen Neujahrsfeierlichkeiten Fahrten zwischen China und Europa abgesagt. Zu einem gewissen Grad ist das normal rund um den wichtigsten chinesischen Feiertag. Doch durch das Coronavirus hat sich die Zeitspanne enorm ausgeweitet: In den vergangenen Wochen haben die Reedereien nach Daten von Alphaliner beinahe 50 Prozent ihrer Dienste zwischen Asien und Europa gecancelt.
Das Problem sind nicht nur die Produktionsstopps: In den chinesischen Häfen kommt es wegen Personalmangel durch die Quarantänemaßnahmen zu Stau. Außerdem fehlt es an Lastwagenfahrern, um die Ware abzutransportieren. So warnte der weltgrößte Seefrachtspediteur Kühne und Nagel vor wenigen Tagen seine Kunden noch: „Die Häfen von Shanghai, Tianjin und Ningbo bleiben überlastet.“ Für Kühlcontainer, in denen etwa Fleisch und Gemüse transportiert werden, gäbe es in den Häfen kaum noch Steckdosen. Die Kühlcontainer können deshalb nicht von den Schiffen entladen werden – die Ware würde ohne Kühlung vergammeln.
Hinzu kommen die Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz vor einer weiteren Ausbreitung der Krankheit: Oldendorff, eine der größten Reedereien für Massengüter wie Getreide, hat aus früheren Krisen gelernt, zum Schutz der eigenen Mitarbeiter schneller zu reagieren. Das Lübecker Unternehmen verhängte unmittelbar nach der ersten Verbreitung des Coronavirus einen Reisestopp für seine 4000 Mitarbeiter weltweit. In Risikogebieten wie China und Singapur seien Landgänge, Besucher an Bord und das Wechseln der Crews verboten. So stark wie jetzt seien die Einschränkungen für die Flotte noch nie gewesen, berichtet Oldendorff-Kommunikationschef Scott Jones.
Für die Reedereien birgt die Situation auch finanziell große Risiken. Die Frachtraten sind in den vergangenen Wochen stark gesunken. So kostet ein Container von China nach Europa laut dem Frachtindex SCFI aktuell kaum noch 800 Dollar. Ende 2019 lag der Index noch bei über 1000 Dollar je Container.
Dabei haben die Reeder sogar Glück, dass die Handelsflaute sie nicht noch schlimmer trifft: „Weil seit Jahresanfang in der Schifffahrt strengere Umweltregeln gelten, befinden sich viele Schiffe für Nachrüstungen von Abgasreinigungsanlagen in Werften“, erklärt Analyst Thomas Wybierek von der NordLB: „Sonst würden die Effekte durch das Coronavirus die Containerschifffahrt noch härter treffen.“ Doch wegen der strengeren Umweltvorschriften steigen zugleich auch die Treibstoffkosten für viele Reeder. „Die Branche gerät doppelt unter Druck“, erklärt Wybierek.
Nur zwei Mal hat die Schifffahrt es bisher erlebt, dass in so kurzer Zeit so viele Schiffe ohne Beschäftigung waren. Das erste Mal während der Finanzkrise, das zweite Mal traf die Branche die Pleite der Reederei Hanjin. Quasi über Nacht war die südkoreanische Reederei zahlungsunfähig, Häfen hielten deshalb Hanjin-Schiffe fest. Andere blockierten die Einfahrt, weil unklar war, wer für die Hafengebühren aufkommt. Die Pleite von Hanjin nahm 2016 etwa 1,6 Millionen Standardcontainer aus dem Markt, berichtet Alphaliner. Doch innerhalb von wenigen Wochen normalisierte sich die Situation wieder.
Wie lange es diesmal dauern wird, bis die Containerschiffe wieder über die Meere fahren, hängt wohl vom weiteren Verlauf der Coronavirus-Epidemie ab. Die Seefrachtspedition Kühne und Nagel warnt Kunden bereits: „Auf Langstrecken werden die Leerfahrten bis Mitte März fortgesetzt.“