Zum Start ein kleines Quiz: Wann gab es in Deutschland die wenigsten Unternehmenspleiten?
a.) In der Wirtschafswunderära,
b.) Im Wiedervereinigungsboom, oder
c.) Zur Zeit der Hyperinflation in der Weimarer Republik
Tatsächlich ist Antwort c.) richtig. Im Jahr 1923 wurden exakt 497 Konkursanträge erfasst, 270 Pleiteverfahren wurden eröffnet. Das geht aus dem „Ersten Bericht der Kommission für Insolvenzrecht“ des Bundesjustizministeriums von 1985 hervor, den der Insolvenzexperte Jörn Weitzmann ausgegraben hat.
Die Zahlen wirken surreal: 1923 gilt Historikern als Schicksalsjahr der Weimarer Republik. Deutschlands Wirtschaft lag in Scherben, der Staat war pleite, die Inflation explodierte und gegen Ende des Jahres mussten Bürger für ein Ei rund 320 Milliarden Mark bezahlen, ein Liter Milch kostete 360 Milliarden Mark. Kurzum: Es herrschte die schwerste Wirtschaftskrise, die das Land je erlebt hatte.
Dass die Pleitezahlen trotzdem auf das extrem niedrige Niveau sackten, dürfte an vielen Faktoren gelegen haben: von Unzulänglichkeiten der Statistik bis zu Firmenchefs, die ob ihrer verzweifelten Lage schlicht keinen Grund mehr sahen, überhaupt noch zum Konkursgericht zu gehen. Doch trotz möglicher Ungenauigkeiten ist der Trend eindeutig und belegt damit vor allem eines: Die Zahl der Insolvenzen kann sich von der wirtschaftlichen Realität eines Landes abkoppeln – zumindest zeitweise.
Bedrohlich wirken auch die Rahmenbedingungen fast 100 Jahre später: Wieder steigt die Inflation (wenn auch weit weniger dramatisch), es drohen Energieengpässe, das Verbrauchervertrauen leidet, hinzu kommen der Ukraine-Krieg und geopolitische Konflikte (Taiwan), der Mitarbeitermangel, die Lieferkettenprobleme, die Euro-Schwäche, die Corona-Lage. Kein Zweifel: An Krisenherden mangelt es nicht. Und so überschlagen sich derzeit die Warnungen vor einer Insolvenzwelle im Herbst und Winter. Der Paritätische Gesamtverband befürchtet eine Insolvenzwelle im Sozialen, die Baubranche rechnet mit mehr Firmenpleiten. Und auch „im Handwerk rollt auf uns wegen der Energiekrise eine Insolvenzwelle zu“, sagt Handwerkslobbyist Hans Peter Wollseifer.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Die Insolvenzen des Schuhhändlers Görtz und des Toilettenpapierproduzenten Hakle in dieser Woche wirken da fast schon wie ein Menetekel. Und mit einem schwachen Auftritt in der Talkshow Maischberger verstärkte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Sorgen noch. Ausgerechnet im Bemühen, keine Insolvenzwelle heraufzubeschwören, verhedderte sich Habeck in der Unterscheidung von Insolvenz, Produktionsstopp und Betriebsschließungen.
Ist sie jetzt also tatsächlich da, die Pleitewelle, die seit geraumer Zeit befürchtet wird? Die Statistiken deuten in eine ganz andere Richtung: Seit Jahren nimmt die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ab. So registrierte die Wirtschaftsauskunftei Creditreform schon im Jahr 2020 mit 16.300 Fällen den niedrigsten Insolvenzstand seit der Einführung der Insolvenzordnung im Jahr 1999. Seither ging es weiter abwärts. Im ersten Halbjahr 2022 zählten die Experten noch rund 7.300 Unternehmensinsolvenzen. Zum Vergleich: 2004 ging fast 40.000 Unternehmen das Geld aus, im Zuge der Finanzkrise 2009 waren es rund 33.000.
Noch aussagekräftiger ist der Blick auf Großinsolvenzen. Nach einer Auswertung der Restrukturierungsberatung Falkensteg mussten 2021 nur 161 Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 10 Millionen Euro oder mehr Insolvenz anmelden. 2020 waren es noch 291 Unternehmen und im Jahr davor 185. Ein großer Teil der insolventen Unternehmen konnte übrigens gerettet werden und blieb erhalten.
Die Zahlen normalisieren sich
Nun scheint allerdings ein Tiefstand erreicht. Laut einer aktuellen Analyse des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) lag die Zahl der Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften im Juli bei 710. „Das sind so viele Fälle wie im Juni, aber elf Prozent mehr als im Vorjahresmonat“, erläuterten die Forscher. „Vor dem Hintergrund der Vielzahl ökonomischer Probleme und Unwägbarkeiten ist in den nächsten Monaten mit höheren Insolvenzzahlen als im Vorjahr zu rechnen“, sagte IWH-Experte Steffen Müller. Dennoch: „Von einer drohenden Insolvenzwelle kann trotz steigender Zahlen derzeit nicht gesprochen werden“, so Müller.
Im Klartext: Es wird wieder mehr Pleiten geben – das ist allerdings eher eine Normalisierung. Denn die Insolvenzstatistik wurde in der Coronazeit durch zahlreiche wirtschaftspolitische Eingriffe verzerrt. In der Pandemie hatte die Bundesregierung den Chefs pandemiegeschädigter Firmen vorübergehend erlaubt, auf einen Insolvenzantrag zu verzichten, sofern Aussicht auf Sanierung besteht. Und natürlich hielten auch die Hilfsgelder von Bund und Ländern sowie das Kurzarbeitergeld zahlreiche angeschlagene Unternehmen über Wasser. Die Folge: Nicht nur in den wirtschaftlichen Boomjahren ging die Zahl der Insolvenzen zurück, sondern eben auch in den Krisenjahren.
Und auch jetzt wird die Politik wieder versuchen, gegenzusteuern. So soll etwa „eine zeitlich begrenzte Erleichterung bei der Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags wegen Überschuldung eingeführt werden“, kündigte ein Sprecher des Bundesjustizministeriums an.
Von der Änderung würden „Unternehmen profitieren, die im Kern gesund und auch langfristig unter den geänderten Rahmenbedingungen überlebensfähig sind“, erklärte der Sprecher weiter. „Sie sollen Zeit gewinnen, um ihre Geschäftsmodelle anpassen zu können.“ Zahlungsunfähige Betriebe würden nicht unter die Regelung fallen. Auch bei den Überschuldungskriterien soll es Änderungen geben.
Macht das die Lage besser? Auf Dauer vermutlich nicht. Kurzfristig aber dürften die Änderungen dazu beitragen, den Anstieg der Insolvenzen zumindest zu begrenzen, ebenso wie mögliche Hilfspakete. Auch deshalb ist eine Pleitewelle im Herbst unwahrscheinlich. Und langfristig? Sieht die Lage schon anders aus. Die Zahl so genannter Zombieunternehmen, die nicht in der Lage sind, ihre Schulden aus operativen Erträgen zu decken, steigt seit Jahren. Über kurz oder lang können Krisen und Rezession nicht spurlos am Insolvenzgeschehen vorbei gehen. Die Frage ist nur, ob der Pegelstand nach und nach steigt, oder ob das „Wasser“ tatsächlich als Welle bricht.
In der Weimarer Republik wurden übrigens 1925 und 1926 neue Pleitenhöchststände gemessen – mit damals rund 14.800 und 15.800 Fällen. Das war knapp zwei Jahre nach dem Ende der Hyperinflation und in einer Ära die oft als „Goldene Zwanziger“ beschrieben wird.
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