Wirecard „Damit wird EY nicht durchkommen“

Der Hauptsitz von Wirecard im bayerischen Aschheim bei München. Das Unternehmen war vorgeblich mit der Absicherung von Online-Bezahlungen befasst. Quelle: obs

Der Rechtsanwalt Marc Liebscher erklärt, warum Wirecard-Aktionäre seit neuestem doch auf Schadenersatz hoffen dürfen – nicht von Wirecard selbst, sondern von dessen früherem Wirtschaftsprüfer.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Marc Liebscher ist Rechtsanwalt und spezialisiert auf Kapitalmarktrecht. Zudem ist er Sprecher der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK).

Herr Liebscher, 2020 ist der Zahlungsabwickler Wirecard pleitegegangen. Aktionäre und Anleihegläubiger haben Milliarden verloren. Sie haben gemeinsam mit der Kanzlei Schirp hunderte Klagen eingereicht. Hand aufs Herz - wie wahrscheinlich ist es, dass die Anleger tatsächlich Geld zurückerhalten?
Bei Wirecard selbst ist nichts zu holen. Das Vermögen der ehemaligen Vorstände dürfte auch nicht reichen. Ich schätze die Chance allerdings als hoch ein, dass Anleger Schadenersatz von Wirecards ehemaligem Wirtschaftsprüfer EY bekommen. 

EY hat die Bilanzen von Wirecard jahrelang uneingeschränkt abgesegnet. Den Prüfern war nicht aufgefallen, dass Umsätze in Milliardenhöhe und auch Guthaben auf Treuhandkonten erfunden waren. Dass EY versagt hat, liegt auf der Hand. Damit ein Wirtschaftsprüfer unbeschränkt haftet, muss ihm allerdings Vorsatz nachgewiesen werden. Das stelle ich mir äußerst schwer vor. 
Wenn EY das Testat ins Blaue hinein vergab, die Prüfer also nicht genau hinschauten, ob die Guthaben auf den Treuhandkonten auch wirklich da waren und sie dabei billigend in Kauf nahmen, dass die Testate falsch waren, dann läge schon bedingter Vorsatz vor und EY wäre unbegrenzt haftbar.

Und EY hat ins Blaue hinein testiert? 
Meines Erachtens ist das eindeutig. Die Prüfer wären verpflichtet gewesen, Bestätigungen über die Guthaben auf den Treuhandkonten bei den Banken einzuholen. 

... was sie nicht getan haben ...
Genau. EY hat damit seine Prüfungsaufgabe nachlässig erledigt, nämlich durch unzureichende Ermittlungen. Hinzu kommt, dass EY ja angab, ausreichend geprüft zu haben. Dabei hat EY eine Rücksichtslosigkeit an den Tag gelegt, die angesichts der Bedeutung des Bestätigungsvermerks für die Anlageentscheidungen von Investoren als gewissenlos erscheint. Damit hat EY ins Blaue hinein testiert. 

EY argumentiert, dass sie bei Treuhandkonten anders als bei normalen Geschäftskonten nicht dazu verpflichtet waren, Bankbestätigungen einzuholen.
Damit wird EY nicht durchkommen. Zum einen waren die Treuhandkonten existenziell für Wirecard. Sie mussten also besonders genau geprüft werden. Zum anderen hätte EY doppelt vorsichtig sein müssen, nachdem Ungereimtheiten bei einer Übernahme 2015 in Indien auftauchten. Eine Untersuchung hierzu durch EY-Forensiker ergab zahlreiche Warnhinweise, aber die Wirecard-Vorstände brachen die Untersuchung vorzeitig ab. Solche Signale ignorierten die Prüfer. Sie nahmen damit in Kauf, dass ihre Testate falsch sein könnten, obwohl sie hätten wissen müssen, dass die erteilten Testate für die Anleger außerordentlich wichtig waren.

Bislang hat das Landgericht München alle Klagen von Anlegern gegen EY abgewiesen. 
Ja, das stimmt. Die Richter forderten von den Anlegern einen Nachweis darüber, dass sie den Jahresabschluss von Wirecard und auch das Testat von EY gelesen und deswegen Wirecard-Aktien gekauft haben. Einen solchen Nachweis zu erbringen ist für Privatanleger in den meisten Fällen aber nicht möglich. Wer dokumentiert denn schon den Prozess seiner Anlageentscheidung im Detail. Nach einem Beschluss des Oberlandesgerichts dürfte das aber in Zukunft nicht mehr nötig sein. 

Diesem Beschluss zufolge soll das Landgericht München seine Haltung in Sachen Wirecard noch einmal überdenken.
Genau. Die Richter dort sind zum einen der Meinung, allein der Umstand dass testierte Jahresabschlüsse vorlagen, war ursächlich dafür, dass Anleger die Aktien und Anleihen von Wirecard kauften. Zweitens meinen sie, dass allein die Existenz eines Testats eine positive Anlagestimmung erzeugen kann. Sie werten ein Testat letztlich als Bestätigung dafür, dass bei einem Unternehmen alles in Ordnung ist. Das entspricht ja auch völlig dem, wie der Kapitalmarkt funktioniert und das ist gut für die Anleger. Wenn sich die Sichtweise durchsetzt, müssten die Anleger bei einer Klage gegen EY nicht mehr individuell nachweisen, wegen des Testats in Wirecard investiert zu haben. Es wird sozusagen vorausgesetzt.

„Je länger das Verfahren dauert, desto mehr Zeit hat EY, sich umzustrukturieren und die Haftungsmasse zu verringern“, sagt Marc Liebscher. Deswegen rät er von einem Musterverfahren ab. Quelle: PR

Es wurden ja bereits hunderte Klagen eingereicht. Es werden auch sicher noch viele hinzukommen. Wäre es nicht sinnvoll, diese zu einer Sammelklage zu bündeln, so wie zum Beispiel einst beim Telekom-Verfahren
Wir raten unseren Mandanten davon aus einem ganz banalen Grund ab. So ein Kapitalmusterverfahren dauert viel zu lange. Bei der Telekom waren es 20 Jahre, hier ist im allerbesten Fall mit zehn Jahren zu rechnen, bis die Anleger einen Titel in der Hand haben, den sie gegen EY vollstrecken können. Im schlimmsten Fall entscheidet der BGH sogar, dass ein Kapitalmusterverfahren nicht zulässig war und dann fangen sie noch mal von vorn an. Wenn sich ein Verfahren so lange hinzieht, steigt auch die Gefahr, dass die Anleger am Ende komplett leer ausgehen, selbst wenn sie gewinnen.

Wie meinen Sie das?
Je länger das Verfahren dauert, desto mehr Zeit hat EY, sich umzustrukturieren und die Haftungsmasse zu verringern. Anzeichen dafür sehen wir bereits: Die Partner von EY entnehmen alle Gewinne voll aus dem Unternehmen ohne Rücklagen zu bilden. EY betreibt seit kurzem zudem eine Reorganisation des Europageschäfts. So soll eine neue EY-Einheit Europa-West gegründet werden. Und ausgerechnet Hubert Barth, Partner und zuletzt Deutschland-Chef von EY, soll dort eine neue Führungsposition erhalten. EY wird unbedingt zu verhindern suchen, genauso unterzugehen wie einst der Wirtschaftsprüfer Arthur Anderson wegen des Enron-Skandals. 

Wollen Sie andeuten, dass die Ansprüche der Anleger in zehn Jahren ins Leere laufen könnten, weil die EY-Gesellschaft, gegen die sie geklagt haben, vermögenslos ist?  
Ja, ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, dass bei EY in Deutschland in zehn Jahren nicht mehr viel zu holen sein wird. Als Anleger, der erfolgreich klagt, haben Sie nur einen Anspruch gegen die EY-Gesellschaft in Deutschland. Dort liegen ohnehin nicht mehrere Milliarden. Wir gehen aber davon aus, dass das vorhandene Vermögen auch noch weggezahlt wird. 

Und wenn man direkt klagt, geht es schneller?
Wer direkt klagt, muss mit drei bis fünf Jahren Verfahrensdauer rechnen. Das ist hier wichtig, denke ich. Je schneller die Anleger sind, desto höher ist die Chance, dass noch was zu holen ist.

Das interessiert WiWo-Leser heute besonders

Geldanlage Das Russland-Risiko: Diese deutschen Aktien leiden besonders unter dem Ukraine-Krieg

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine belastet die Börsen. Welche deutschen Aktien besonders betroffen sind, zeigt unsere Analyse.

Krisenversicherung Warum Anleger spätestens jetzt Gold kaufen sollten

Der Krieg in der Ukraine und die Abkopplung Russlands von der Weltwirtschaft sind extreme Inflationsbeschleuniger. Mit Gold wollen Anleger sich davor schützen – und einer neuerlichen Euro-Krise entgehen.

Flüssigerdgas Diese LNG-Aktien bieten die besten Rendite-Chancen

Mit verflüssigtem Erdgas aus den USA und Katar will die Bundesregierung die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland mindern. Über Nacht wird das nicht klappen. Doch LNG-Aktien bieten nun gute Chancen.

 Was heute noch wichtig ist, lesen Sie hier

Eine direkte Klage dauert aber immer noch sehr lange. Der Prozess kann für Anleger sehr kostspielig werden. Lohnt sich das für jemanden, der ein paar tausend Euro verloren hat?
Bei einem Schaden von weniger als 10.000 Euro müssten sich Anleger schon zu einer Streitgenossenschaft zusammenschließen, damit sich das lohnt. Es klagt zwar dann immer noch jeder für sich. Die Kosten können aber gebündelt werden. Indem das Oberlandesgericht München den Anlegern die Last genommen hat, individuell nachzuweisen, wie sie zu ihrer Anlageentscheidung gekommen sind, hat es die Basis für solche Bündnisse gelegt. Zwar hatte das Landgericht solche Klagen zuletzt immer wieder aufgetrennt, aber der Hinweisbeschluss des Oberlandesgerichts gibt eben jetzt Anlass zur Hoffnung. 

Mehr zum Thema: Als Wirecard-Chef prahlte Markus Braun, er habe „vollen Einblick“ in die Geschäfte. Heute gibt er sich ahnungslos, als Opfer in dem Milliardenskandal. Doch seine Belege sind dünn – und seine Verfehlungen zahlreich.


© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%