Ausstiegs-Wirren Wie sich Spediteure und Logistiker auf den Brexit-GAU vorbereiten

Brexit: So bereiten sich Spediteure auf den schlimmsten Fall vor Quelle: AFP

Mit dem Brexit droht Spediteuren am Eurotunnel Chaos. Blick hinter die Kulissen einer Branche, die sich auf das Schlimmste einstellt, während London und Brüssel mit ungewissem Ausgang nach einer Lösung suchen.

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Einen Vorgeschmack auf ein mögliches Brexit-Chaos hat Christian Meßing in den vergangenen Tagen bekommen. Über zig Kilometer reihten sich, einer Perlenkette gleich, vor dem Eurotunnel in der französischen Grenzgemeinde Calais Lkw Stoßstange an Stoßstange. Einen Tag verloren manche, weil französische Zollbeamte für bessere Löhne streikten. Meßing, Geschäftsführer einer Spedition im westfälischen Coesfeld, hat beschlossen: „In den ersten zwei Wochen nach dem Brexit fahren wir wahrscheinlich gar nicht.“

Meßings Branche richtet sich, ebenso wie die Betreiber des Eurotunnels, auf den größten anzunehmenden Unfall ein: einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Je näher der 29. März rückt, desto größer die Angst vor dem GAU. Aus gutem Grund: Im britischen Unterhaus ist der Brexit-Deal zweimal durchgefallen, eine dritte Abstimmung überraschend abgesetzt worden, nun schauen alle nach Brüssel.

Dorthin reist die britische Premierministerin Theresa May am Donnerstag. Im Gepäck hat sie die Hoffnung, die europäischen Staats- und Regierungschefs mögen den EU-Austritt ihres Landes aufschieben, mindestens bis Juni. Doch das ist alles andere als gewiss: Kein einziger Mitgliedstaat darf ausscheren. Einen Aufschub wird es nur im Konsens geben. Und so steigt an einer der Hauptschlagadern der europäisch-britischen Wirtschaftsbeziehungen von Tag zu Tag die Nervosität.

Denn nichts Geringeres ist der Eurotunnel, wie John Keefe, bei der Betreibergesellschaft verantwortlich für das strategische Management, dieser Tage im Gespräch mit deutschen Unternehmern verdeutlicht. Ein Viertel der gesamten Handelsströme innerhalb der Europäischen Union fließen durch den Eurotunnel, referiert Keefe ihnen, 1,7 Millionen Lkw pro Jahr. Sie transportieren Waren im Wert von 140 Milliarden Euro, 30 Milliarden davon entfallen auf den Handel zwischen Deutschland und Großbritannien.

Keefe versucht zu beruhigen. Man bereite sich auf den „worst case“ vor. Konkret bedeutet dies: Sämtliche Dokumente – Lieferscheine, Ausfuhrdokumente, Genehmigungen, Lizenzpapiere – würden am Eurotunnel gescannt. Sind die Dokumente vollständig, bekomme der Fahrer binnen Minuten freie Fahrt. Falls nicht, müsse er auf eine neu eingerichtete, orange markierte Spur. Die wird geradewegs in einen gesonderten Bereich führen, wo Keefes Kollegen die Papiere von bis zu 100 Lkw parallel inspizieren können.

Ausreichend Platz sei da, um den Lkw-Verkehr diesseits und jenseits des Ärmelkanals im Fluss zu halten, behauptet Keefe. Unkalkulierbar, finden die Spediteure. Sie kennen die Warnung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages: „Sollte sich die Abfertigung in Dover nur um zwei Minuten verzögern, drohen Lkw-Staus von mehr als 20 Kilometern.“ Mit der Folge, dass Fahrer ihre gesetzlich vorgeschriebenen Stand- und Ruhezeiten nicht einhalten können, am Fahrbahnrand stranden, den Verkehr über die Grenze zu Belgien hinaus zum Erliegen bringen. Der GAU nicht nur für den Warenverkehr.

Die naheliegende Sorge der Spediteure: Sie können noch so sorgfältig planen, ihre Fahrer noch so zuverlässig sein – welche Unterlagen am 29. März benötigt werden, kann niemand mit Sicherheit sagen. Selbst John Keefe räumt ihnen gegenüber ein: „Es wird ganz sicher Verwirrung geben“.

Diese Brexit-Befürworterin hält die Furcht der Logistik-Branche in Händen: ein Austritt Großbritanniens am 29. März, Quelle: AFP

Das liegt daran, dass ohne Austrittsabkommen im Handel zwischen Großbritannien und der EU buchstäblich von heute auf morgen die Regeln der Welthandelsorganisation gelten werden. Unter Lieferanten und Spediteuren kursiert ein 192-seitiges Merkblatt des deutschen Zolls. Im Anhang Hunderte Kürzel mit den international gängigen Verpackungscodes: von AE für Aerosol (ein nebelförmiges Gemisch in Sprühdosen) bis CY für Zylinder.

Was das im Extremfall bedeuten kann, zeigt sich am Beispiel von Christian Meßing. Seine Spedition ist auf den Transport von Industriematerialien für Bodenbeläge, Kunststoffplatten und Seilbahntechnik spezialisiert. Regelmäßig haben seine Fahrer Sammellieferungen für bis zu 30 Kunden im Laderaum. Jedes Gut muss präzise verzeichnet sein, jeder Empfänger die Lieferung quittieren.

„Da muss der Zöllner ganz schön viel stempeln“, sagt Meßing mit gequältem Lächeln. Wenn nur ein Dokument fehlt, kann das am Eurotunnel für seine Fahrer bedeuten: ab auf die orange Spur, warten, bangen, hoffen. Meßing hat lediglich drei seiner 80 Lkw für das Großbritannien-Geschäft abgestellt, Komplikationen könnte er eine Zeitlang verkraften.

120 Abkommen mit der Schweiz

Das ist beim Unternehmerpaar Kottmeyer aus Bad Oeynhausen anders. Die Kottmeyers haben 65 Lkw allein für Großbritannien im Fuhrpark, zehn bis zwölf Abfahrten pro Tag, hauptsächlich im Auftrag von Automobilzulieferern. „Das ist eines unserer wichtigsten Standbeine“, sagt Speditionsleiterin Bettina Kottmeyer.

Ihr Mann Horst, Geschäftsführer des Unternehmens, will bereits festgestellt haben, dass deutsche Betriebe Abstand nehmen von englischen Lieferanten. „Die Importe aus Großbritannien nehmen ab“, sagt Kottmeyer. Die Zahlen geben ihm Recht: Seit dem Brexit-Referendum vor bald drei Jahren ist das Vereinigte Königreich vom dritt- zum fünftwichtigsten Handelspartner Deutschlands zurückgefallen. Waren im Wert von 82 Milliarden Euro lieferten deutsche Unternehmen im vergangenen Jahr nach Großbritannien.

Hürden für neue Abstimmung über Brexit-Abkommen

Zeigen nicht die Beispiele der Nicht-EU-Mitgliedsländer Schweiz und Norwegen, dass es auf dem Kontinent auch ohne Zollunion funktionieren kann? Der Warenaustausch mit der Schweiz läuft schließlich reibungslos. Der Grund: Das Procedere ist in 120 bilateralen Verträgen geregelt und in jahrzehntelanger Praxis eingespielt. Für Abfertigungen und Zollkontrollen an der Grenze zu Großbritannien gilt das nicht. „Man kann nur hoffen“, geben Zollbeamte den Spediteuren mit auf den Weg, „dass es mit Großbritannien eines Tages auch so sein wird.“

Die britische Regierung hat angekündigt, in der ersten Zeit nach dem Ausstieg nachsichtig zu sein, die Kontrollen erst nach und nach anzuziehen. Doch umgekehrt, bei der Einfuhr in die EU, geht wohl künftig „nichts mehr ohne Zollpapiere“, sagt eine erfahrene Zollbeamtin. Problem: Wo keine Zöllner, da keine Stempel.

„Womöglich lohnt sich das Geschäft gar nicht mehr“

Denn anders als in Deutschland gibt es auf der Insel außerhalb von Häfen und Flughäfen so gut wie keine Zollämter mehr und kaum ausgebildete Zöllner. Hierzulande seien die 38.000 Zollbeamte verteilt auf 266 Zollämter angewiesen, „alles zu akzeptieren, was man ihnen vorlegt“, heißt es hinter vorgehaltener Hand – solange zumindest das Datum stimmt. Bislang kümmert sich der Zoll um 74 Millionen Zollanmeldungen pro Jahr. Durch den Brexit kommen rund 15 Millionen hinzu.

Beim Zoll regiert künftig der Pragmatismus? Die Logistik-Unternehmer sind da skeptisch. Sie treiben noch ganz andere Dinge um: Was ist mit den Diesel-Freimengen? Bisher durften sie 200 Liter Diesel in ihren 800-Liter-Tanks mit auf die Insel führen, um auf der Rückfahrt nicht teuer nachtanken zu müssen. Was mit den Lizenzen für ihre Lkw, 130 Euro das Stück, damit die nach dem Brexit weiter in Großbritannien fahren dürfen? Es bleibt nicht mehr viel Zeit, „und wir müssen möglicherweise unsere gesamte Kalkulation überdenken“, heißt es.

Horst Kottmeyer wird deshalb grundsätzlich. „Für einen Mittelständler, der einen kleinen Teil seines Umsatzes mit Großbritannien macht“, sagt der Unternehmer, „lohnt es sich womöglich gar nicht mehr, das Geschäft weiterzuführen.“ Für ihn ist das keine Option, zu bedeutsam das Geschäftsvolumen. Und so hofft er insgeheim, dass doch noch Vernunft einkehrt in London.

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