Wurstkartell Grobe Fehler beschädigen das Image des Kartellamts

Weil sich das Bundeskartellamt schwere Verfahrensfehler leistet, bleiben Unternehmen aus der Fleischbranche straffrei. Ein Protokoll der Peinlichkeiten.

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Nach kaum 20 Minuten ist die Niederlage für das Bundeskartellamt besiegelt. An einem kalten Märztag treffen sich Vertreter des Staates und des Wurstfabrikanten Heidemark im Sitzungssaal BZ5 des Düsseldorfer Oberlandesgerichts (OLG). Gleich zu Beginn der Verhandlung ergreift Generalstaatsanwalt Niclas Börgers das Wort – und regt nach wenigen Minuten überraschend an, das Verfahren über ein Bußgeld in Höhe von 3,7 Millionen Euro gegen den Putenwursthersteller aus der Nähe von Cloppenburg einzustellen.

Trotz stundenlanger Zeugenvernehmungen an insgesamt zwölf Prozesstagen könne der Vorwurf illegaler Preisabsprachen über einen langen Zeitraum nicht nachgewiesen werden. Ein Vertreter des Kartellamts hält ebenfalls ein kurzes Plädoyer, in dem er nochmals darauf hinweist, es habe aus Sicht des Amtes hinreichende Belege gegeben. Letztlich schließt er sich aber dem Vorschlag der Staatsanwaltschaft an. Die Heidemark-Anwälte kramen ihre Unterlagen zusammen und verlassen den Sitzungssaal.

Was sich in Düsseldorf im spärlich besuchten Saal BZ5 Mitte März zugetragen hat, ist mehr als nur ein juristischer Sieg für Heidemark aus der niedersächsischen Provinz. Es ist eine bittere Niederlage für die Bonner Wettbewerbsbehörde, die bislang eher den Ruf der Unfehlbarkeit genießt. Bei der Aufarbeitung des Wurstkartells machte die Behörde aber vieles falsch.

Dabei sah anfangs alles nach einem Erfolg aus. 2014 verhängte das Amt eine Rekordbuße wegen illegaler Preisabsprachen gegen knapp zwei Dutzend Wurstfabrikanten. Doch viel bezahlt haben die Firmen nicht.

Heidemark ist volles Risiko eingegangen. Wer gegen zwei- und dreistellige Millionenbußgelder des Bonner Kartellamtes Beschwerde einlegt, läuft Gefahr, am Ende noch höher bestraft zu werden. So erging es zuletzt dem Drogerieriesen Rossmann. Statt die Strafe in einem anderen Kartellfall zu akzeptieren, ging der Konzern vor Gericht – und muss nun ein Vielfaches zahlen. Das Düsseldorfer OLG versechsfachte den ursprünglichen Bußgeldbetrag von 5 auf 30 Millionen Euro. Deshalb bewerten Prozessbeobachter die Einstellung des Verfahrens gegen Heidemark als Sensation. Erstmals sei es einem Unternehmen gelungen, im Beschwerdeverfahren vor dem Oberlandesgericht das Bußgeld auf null zu stellen.

Noch überraschender als die Entscheidung selbst sind die Erkenntnisse, die in den Verhandlungsterminen scheibchenweise ans Licht kamen: Das Kartellamt gerät mehrfach in Erklärungsnot, hat bei der Aktenführung geschlampt, möglicherweise sogar manipuliert und Quellen des Kartellverdachts offenbar verheimlicht, sagen Beobachter des Verfahrens.

„Durch seine Fehler im Wurstkartellverfahren hat sich das Bundeskartellamt selber schweren Schaden zugefügt“, sagt Kartellexperte Hans-Joachim Hellmann von der Frankfurter Kanzlei Schilling, Zutt & Anschütz. So hatte die Behörde bei Heidemark nicht nur das Bußgeld gegen die falsche Konzerngesellschaft verhängt, sondern präsentierte dem Gericht nur dünne Beweise. Dabei hatte das Bonner Amt fast fünf Jahre lang ermittelt. Am Schluss waren sich die Beamten ziemlich sicher, fast der gesamten deutschen Wurstbranche nachweisen zu können, dass sie gemeinsam über Jahrzehnte Preise abgesprochen habe.

Auslöser des Verfahrens war eine Anzeige des Wurstherstellers Nölke aus Versmold. Im Sommer 2009 durchsuchte das Amt knapp zwei Dutzend Firmen. Im Juli 2014 verdonnerte es 22 Wursthersteller und 33 beteiligte Manager zu Bußgeldern in Höhe von insgesamt 338 Millionen Euro – nach dem Zementkartell aus dem Jahr 2003 mit 396 Millionen Euro war dies die höchste Kartellstrafe, die jemals in Deutschland verhängt wurde.

Beim Kassensturz bleibt für die Kartelljäger jedoch wenig übrig. Eine erste Schlappe kassierten sie kurz nach dem Versand der Bußgelder – die einzige Panne, für die sie nichts können. Ein Wurstfabrikant nach dem anderen teilt dem Amt mit, dass sich die vom Kartellamt verfolgten Unternehmen in Luft aufgelöst haben (siehe WirtschaftsWoche 6/2015). Namhafte Hersteller wie Böklunder, Marten, Abraham und Zimbo nutzen eine Gesetzeslücke: Sie übertragen Tochterfirmen auf andere Gesellschaften und entziehen sich so der Verfolgung. Der Fall bringt es zu einer eigenen Wortschöpfung im Kartellrecht: „Wurstlücke“.

Mit den aufgelösten Firmen entfallen auch die Bußgelder. Dem Amt entgehen so 238 Millionen Euro. Zudem erkauft sich rund ein Dutzend Firmen im Rahmen von Einigungen erhebliche Rabatte. Zwischenzeitlich wird auch das Verfahren gegen den Wursthersteller Herta eingestellt, eine Tochter des Schweizer Nestlé-Konzerns.

Im Sommer 2017 gibt das Kartellamt das Verfahren an die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf ab, weil neben Heidemark auch Wiltmann und Willms aus Nordrhein-Westfalen sowie Wiesenhof und Rügenwalder aus Niedersachsen die Bußgelder nicht akzeptieren. Wiesenhof und Willms ziehen ihre Widersprüche kurz vor Prozessbeginn zurück. Zu groß ist ihre Angst vor einer Straferhöhung. Rügenwalder hingegen einigt sich nach wenigen Prozesstagen mit der Staatsanwaltschaft und zahlt ein nur leicht reduziertes Bußgeld, bekommt aber vom Gericht bestätigt, dass es keine Verstöße vor 2006 gab – was mit Blick auf das Risiko von Schadensersatzklagen von Vorteil ist. Der Prozess von Wiltmann aus Versmold läuft noch.

Liste der Pannen wird immer länger

Durch eine Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist zwar künftig ausgeschlossen, dass sich eine erneute „Wurstlücke“ in anderen Kartellfällen wiederholt. Demnach kann nun auch gegen den Rechtsnachfolger eines Kartellunternehmens eine Geldbuße verhängt werden. Doch jetzt kommen im Saal BZ5 plötzlich andere Lücken auf den Tisch: die Lücken in den Akten des Bundeskartellamtes.

Die tun sich in den vergangenen März-Wochen auf, als der Kronzeuge im Prozess, ein ehemaliger Manager des Wurstherstellers Nölke, über die Vorgeschichte des Verfahrens plaudert. Demnach habe es Kontakte zwischen ihm, seiner Anwältin und dem Kartellamt gegeben, und das schon Monate bevor die Ermittlungen ins Rollen kamen.

In den Verfahrensakten des Kartellamts findet der OLG-Senat dazu allerdings nichts. Prozessbeobachter berichten, der Vorsitzende Richter Ulrich Egger habe sich verblüfft darüber gezeigt, dass nicht ein Mitarbeiter des Kartellamtes, sondern ausgerechnet der Kronzeuge ihn darüber informierte, dass Vorgespräche stattgefunden hätten. Dadurch, ließ Egger durchblicken, sinke der Beweiswert der aufgefundenen Akten.

Der Richter hält dem Kartellamt vor, es habe offensichtlich nicht alle Tatsachen genannt. Genervt unterbricht er an mehreren Tagen die Sitzungen. Kurz vor der Einstellung des Heidemark-Verfahrens fordert er die Mitarbeiter der Behörde auf, die fehlenden Akten beizuschaffen. Liefern konnten sie nicht.

Im Laufe der folgenden Verhandlungstage werden erneut der Kronzeuge und vier Mitarbeiter des Kartellamtes vernommen. Dabei kommen weitere brisante Details ans Tageslicht. So stellt sich heraus, dass das Kartellamt dem Amtsgericht Bonn bei der Beantragung des Durchsuchungsbeschlusses den Kronzeugen Nölke verschwieg. Stattdessen behauptete ein Mitarbeiter der Behörde, man werde auf einen anonymen Hinweis hin tätig. „Das kann man wohl eine glatte Lüge nennen“, sagt ein Prozessbeobachter.

Die Liste der Pannen wird von Tag zu Tag länger. So wurden bei den bundesweiten Durchsuchungen der Wurstfirmen keine Einzelverbindungsnachweise sichergestellt – obwohl der Behörde durch Aussagen des Kronzeugen klar war, dass die Preisabsprachen fast nur telefonisch organisiert worden sein sollten. Gerade das „unterscheidet das Wurstkartell von klassischen Kartellen, bei denen Branchenteilnehmer meist an Treffpunkten zusammenkommen“, sagt Experte Hellmann.

Die Heimlichtuerei und die fehlenden Akten begründet das Kartellamt mit der Anonymität des Kronzeugen, die besonders geschützt werden sollte. Der Kronzeuge habe seinerzeit auf mögliche Repressalien verwiesen, sogar auf eine Gefahr für Leib und Leben. Schließlich spiele sich das Kartell in der Schlachthofbranche ab. Bei Vernehmungen vor dem OLG distanzierte sich der Kronzeuge jedoch von früheren Aussagen und bestritt eine Gefahr für Leib und Leben.

Wie nachlässig das Kartellamt die Akten führte, verdeutlicht eine Nachfrage von Wiltmann-Verteidiger Joachim Ritter von Strobl-Albeg, Kartellexperte bei der Stuttgarter Kanzlei Löffler-Wenzel-Sedelmeier. Der Jurist verweist auf einen Halbsatz in einem Protokoll, der auf die geringe Relevanz der vermuteten Preisabsprachen seines Mandaten hindeute („einige wenige Male“). Diese Einschränkung, so Strobl-Albeg, tauche später in anderen Dokumenten aber nicht mehr auf.

Das Gericht befragte den Vertreter des Amtes, wie das Protokoll zustande gekommen und wo der Halbsatz geblieben sei. Der Beamte habe, so berichten Beobachter, auf ein technisches Versehen verwiesen. Demnach sei wohl versehentlich die Enter-Taste gedrückt worden, sodass der Rest des Satzes verschluckt worden sei.

Das Kartellamt ist in Erklärungsnot. Seine Schwäche dürfte nun allen Auftrieb geben, denen die Machtfülle der Kartelljäger – Ermittler, Ankläger und Richter in einem – immer schon zu weit ging. „Warum das Bundeskartellamt beim Amtsgericht augenscheinlich falsche Angaben gemacht und über die erste Phase der Ermittlungen keine Akten geführt hat, muss aufgeklärt und schlüssig beantwortet werden“, fordert Kartellrechtler Hellmann.

Nach Ostern wird es in Raum BZ5 zu einem weiteren und vorerst letzten Showdown des Wurstkartells kommen. Dann sitzen Wiltmann-Mitgesellschafter Wolfgang Ingold und sein Anwalt dort. „Wir haben uns nichts vorzuwerfen, und das will ich von einem Gericht bestätigt sehen“, sagt er.

Ingold kämpft um seine Unschuld. Das Bundeskartellamt um seinen Ruf.

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