„Sei dein eigener Chef!“, wirbt der Essenslieferdienst Foodora für den Job als Fahrradkurier zwischen Restaurants und Kunden. „Ihre Begeisterung für Themen wie Simplicity, Lean Development, Cross-Functional Teams und Design Thinking geben Sie an die Kollegen weiter“, heißt es in einer Anzeige des IT-Dienstleisters Senacor. Es gebe „weder Hierarchien noch Chefs“, lockt die Hotel-Suchmaschine Trivago.
„Wir nennen es Arbeit“, haben Sascha Lobo und Holm Friebe vor elf Jahren ihr Manifest zu den Möglichkeiten des digitalen Arbeitens genannt: „Die digitale Boheme das sind Menschen, die sich entschlossen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, die Segnungen der Technologie herzlich umarmen und die neuen Kommunikationstechnologien dazu nutzen, ihre Handlungsspielräume zu erweitern“, schrieben sie. Und tatsächlich begeisterten sich seitdem Millionen Menschen für die große Freiheit in der Arbeitswelt. Aus Lobos Beschreibung der Zukunft wurde Gegenwart.
Im Jahr 2017 arbeiten zwölf Prozent der Deutschen digital und mobil, viele davon selbstständig. Seit Jahresanfang begannen 45 Prozent aller neuen Arbeitsverträge in Deutschland mit einer zeitlichen Befristung. Mittlerweile setzen auch Konzerne auf Boheme-Tugenden ihres Personals: auf die Entfesselung von Potenzialen, auf Autonomie und Kreativität, auf Flexibilität und Hierarchielosigkeit, auf Heimarbeit und Coworking-Spaces. Arbeiten Sie im Open Space, „für mehr Kommunikation und Kreativität“, wirbt die Axa. Und Daimler-Chef Dieter Zetsche kündigte an, den Autobauer im „Schwarm“ zu organisieren.
Glossar der Arbeit
Menschen bewerben sich digital auf Aufträge von Firmen – eine Art Auktion von Dienstleistungen und Kreativarbeit.
In Coworking-Spaces arbeiten Freelancer in der gleichen Umgebung, auch um sich gegenseitig auf Ideen zu bringen.
Wer braucht schon eigene Mitarbeiter, wenn es im Netz genug Spezialisten gibt? Für viele Unternehmen lohnt es sich, Teilaufgaben auf Vermittlungsplattformen auszulagern.
Wenn weniger Schreibtische als Mitarbeiter existieren, setzt ein Unternehmen auf Desksharing. Hier gibt es keine festen Arbeitsplätze, stattdessen wird der Ort des Arbeitens täglich je nach Bedarf ausgesucht.
Früher hieß das Großraumbüro. Die Offenheit soll Kreativität und Kommunikation fördern.
„Freiheit“ ist der Wert, der die schöne neue Arbeitswelt zusammenhält. Die Freiheit, ohne Korsett in den Arbeitstag zu starten; die Freiheit, sich Aufträge auszusuchen; die Freiheit, aus Hierarchien auszubrechen. Das alles sind aber Freiheiten, die ohne Anführungsstriche nicht mehr denkbar, sind weil Smartphones und Algorithmen den Takt vorgeben. Freiheiten, die nicht ohne „internalisierte Disziplin“, ohne die Bereitschaft des Mitarbeiters, als Unternehmer seiner selbst über sich zu wachen, sich beständig zu kontrollieren, funktionieren. Es sind aber auch Freiheiten, die in ihrer Zügellosigkeit viele Beteiligten überfordert.
In Berlin gründen gerade Fahrradkuriere deswegen eine Gewerkschaft, aber auch in vielen Unternehmen reflektiert man die unendliche Freiheit. Zalando-Personalchefin Frauke von Polier zog nach Jahren der großen Freiheiten beim Online-Modehändler ganz klassische Strukturen. Der Unternehmer Nicolaj Armbrust, schaffte erst alle Hierarchien in seinem Unternehmen ab, merkte dann aber, dass er sich und andere überfordert. Und Manager wie jenen bei Yahoo oder L‘Oréal, die Arbeitszeiterfassung oder Präsenzzwang im Büro abschafften, scheiterten und selbiges wieder einführten, geht es ähnlich.
Ihre Lehre: Im schlimmsten Fall kann Freiheit zum Euphemismus verkommen. Das so geäußerte Unbehagen von Digital-Arbeitern und Unternehmen müsste ein Weckruf für die Politik sein, im Wahlkampf diese große Frage zu diskutieren. Unternehmer, Digital-Arbeiter, Gewerkschaften, Verbände, sie alle streiten seit Jahren um die Definition des Freiheitsbegriffs in der Arbeitswelt der Zukunft. Aber abgesehen von der FDP, für die „Digital first. Bedenken second“ gilt, umkreist das Denken der Parteien die Formeln der Vergangenheit. Und das obwohl Arbeitsmarktthemen im Wahlkampf eine prominente Rolle spielen.
Union und SPD wollen unter Beschäftigung auch künftig das „Normalarbeitsverhältnis“ verstehen: angestellt, sozialversichert, unbefristet. Alles andere sei eher Problem als Chance. Teilzeit? Eine Falle. Befristung? Ein Schicksalsschlag. Selbstständigkeit? Nur mit ausreichender Absicherung. „Die Menschen brauchen mehr Sicherheit und Verlässlichkeit“, sagte Kanzlerkandidat Martin Schulz (SPD) diese Woche. Und Amtsinhaberin Angela Merkel (CDU) versicherte, dass die Arbeitszeit der Deutschen sich künftig nicht über den 67. Geburtstag erstrecken werde.