Wer wissen will, wie Konzentration aussieht, muss Christoph Niemann besuchen. An jedem Wochentag sitzt er ab neun Uhr morgens an seinem Schreibtisch. Vor ihm ein weißes Blatt Papier, neben ihm Stifte und Laptop. Viel mehr findet sich in dem hellen Raum nicht. Von kreativem Chaos keine Spur. Stattdessen: Ordnung. Und vor allem: Stille.
Arbeiten in einem Café? Musik hören? Zwischendurch mit Kollegen plaudern? Unmöglich für den 46-Jährigen. Stattdessen ist er von morgens bis abends allein in seinem Refugium und meidet währenddessen technische oder menschliche Ablenkungen. „Ich kann mich nur konzentrieren, wenn es wirklich ruhig ist“, sagt Niemann. Bis 18 Uhr sitzt er an seinem Tisch. Dann geht er nach Hause und isst mit seiner Frau und den drei Kindern zu Abend.
Niemanns Tagesablauf klingt eher nach langweiligem Buchhalter-Dasein als wildem Künstler-Bohème. Tatsächlich aber verdient er sein Geld nicht damit, alte Aktenberge abzuarbeiten – sondern damit, neue Ideen zu entwickeln. Niemann ist einer der begehrtesten Illustratoren weltweit, hat inzwischen elf Bücher und zwei Apps herausgebracht und 22 Titelseiten des legendären US-Magazins „New Yorker“ gestaltet.
Kreativität braucht Ruhe
Wie kann das sein? Muss ein derart kreativer Kopf nicht nach draußen gehen, den Alltag und andere Menschen beobachten, das Internet durchsuchen, sich in Museen und Galerien inspirieren lassen?
Offenbar nicht. Am Schreibtisch probiert er aus, entwirft und verwirft, immer in absoluter Ruhe: „Es erfordert Disziplin, dafür Zeit freizuschaufeln“, sagt Niemann. Doch für ihn ist das Ausprobieren eine lebenswichtige Investition in die Zukunft. „Beim Rumspinnen hatte ich die Ideen, von denen ich fünf Jahre später sagen kann: Die haben meinen Stil langfristig geprägt.“
Niemann ist der Prototyp des kreativen Denkers, der seinen Tagesablauf optimal auf seinen Beruf abgestimmt hat. Denn tatsächlich lässt eine Reihe neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse von Psychologen und Hirnforschern vor allem einen Schluss zu: Wahre geistige Spitzenleistung und wirklich weltbewegende Ideen entstehen nicht nebenbei, zwischen diesem und jenem Gespräch, zwischen der einen WhatsApp-Nachricht und der anderen E-Mail.
Zehn Tipps für mehr Konzentration im Leben
Jeder hat ein riesiges Potenzial und jeder hat gute Ideen. Die Frage ist nur: Wie gut kommen wir da heran, was filtern wir heraus, was halten wir fest? Und wie schnell geben wir auf? Laut gut recherchierten Gerüchten soll es bei einem Brainstorming die 71. Idee sein, die etwas taugt! Und selbst wenn Sie den Gerüchten nicht glauben mögen, glauben Sie mir: Es ist beileibe nicht die erste Idee, die etwas taugt. Halten Sie so lange durch?
Quelle: Hermann Scherers Buch Fokus
Hier geht es um die Tweets, die Sie sich selbst ständig senden und von denen 80 Prozent negativer Natur sind: Klagelieder, Gejammer und im Übrigen nichts als heiße Luft. Dabei kann man trainieren, mit sich selbst positiv zu sprechen. Einfach mal Ideen aufkeimen, aufblitzen, wieder zusammenfallen zu lassen.
Insgesamt unterscheiden wir beim Coaching vier Reifegrade. Bei den ersten beiden Reifegraden 1 und 2 gilt es, mehr mit positivem Feedback zu arbeiten, damit der Coachee Vertrauen bekommt – in diesem Fall auch zu sich selbst: Lob, Bestärkung, Zuspruch, wenn Sie etwas Gutes bemerken. Erst bei den erhöhten Reifegraden 3 und 4 können wir verstärkt mit konstruktiver Kritik und hartem Feedback arbeiten.
Je reifer Sie in Bezug auf das Selbstcoaching sind, desto genauer können Sie sich einschätzen. Einsteigern rate ich daher, sich immer dann positiv zu verstärken, wenn Sie einen geraden Gedanken und eine zielführende Tat bei sich entdecken. Erwischen Sie sich dagegen beim Prokrastinieren oder der Inszenierung einer neuen Ablenkung, nehmen Sie das bitte wahr, aber zucken Sie nachsichtig mit den Schultern und passen auf wie ein Luchs, dass Sie den nächsten Schritt in Richtung Ziel nicht verpassen.
Das mag nach Hokuspokus oder Kaffeesatzleserei klingen, aber ist nicht jede neue Idee erst mal scharfsinniger Unsinn? Aus dem, wenn wir die Fantasie spielen und Emotionen zulassen, am Ende häufig eine handfeste Entscheidung wird. Dokumentieren wir, wie wir die letzten Jahre erlebt haben, lassen dann die Vergangenheit ruhen und springen gedanklich in die Zukunft, um unsere Idealposition zu entwerfen, können wir nur gewinnen.
Beim Entscheiden gilt genau das gleiche wie das, was Paul Watzlawick für das Kommunizieren herausgefunden hat: Auch ein Schweigen ist beredt. Auch ein Pokerface spricht Bände. Auch eine unausgefüllte Steuererklärung führt zum Steuerbescheid. Sie entscheiden immer. Und wenn Sie nicht entscheiden, dann werden Sie entschieden – und das ist manchmal entscheidend für Ihr Leben. Daher bin ich überzeugt: Die Qualität Ihres Lebens hängt weniger von den Jas ab, die Sie bereitwillig eingegangen sind, sondern in viel höherem Maße von den Neins.
Dazu eine Übung: Bitten Sie Ihren Gesprächspartner, gelegentlich Negatives, Belangloses, Nicht-zielführendes ins Gespräch einzustreuen, wohl dosiert und nicht zu platt. Stürzen Sie sich darauf, oder schaffen Sie es, die Gegenargumente einfach sein zu lassen? Das wäre eine gelungene Fokussierung!
Wir machen uns oft zu Betroffenen, obwohl wir nur Beteiligte sind. Deshalb rate ich dringend, sich eine Extraportion Gelassenheit anzutrainieren, die Weltmacht mit den drei Buchstaben ICH – und damit auch die Opferrolle – zu verlassen und die eigene Festplatte neu zu formatieren.
Nach der EM ist vor der WM und da können Nichtsportler immer nur wieder lernen: Etwa, wie wir unsere Gedanken und unsere Emotionen auf den richtigen Fokus richten. Schließlich haben alle Sportler bestimmte Rituale, um sich in einen guten Status zu bringen. Das Warmlaufen vor dem Anpfiff, die Dehnübungen vor dem Start, das gegenseitige Anfeuern. Und wenn der Körper faul ist, dann joggt man dennoch eine Runde und schon kommt man in Schwung. Man tut so als ob – und „als ob“ geschieht. Nur: Im Alltag machen wir das nicht, da bleiben wir lieber schlecht drauf. Dabei wäre es doch schön, in der Zukunft eine bessere Version von sich selbst zu sein.
Erinnern Sie sich, wann Ihr Gehirn das letzte Mal das Ich ausblendet hat und Sie ganz in einer Tätigkeit aufgegangen sind? Beim Lesen, Sport oder Meditieren vielleicht? Indem wir unser Ich verlassen und aus uns heraustreten, können wir uns in einen anderen Menschen hineinversetzen. Sogar in uns selbst und uns reflektieren.
Sondern dann, wenn sich jemand zurückzieht und ganz einer Aufgabe widmet. Wer radikal neu denken will, braucht absolute Ruhe. Dadurch kommen Menschen nicht nur auf neue Ideen, sondern fördern auch das Wachstum ihrer Gehirnzellen. Und zwar messbar.
Inzwischen mischen sich selbst junge Forscher aus dem Silicon Valley in die Diskussion ein. Ihnen geht es allerdings mitnichten darum, gegen alles Neue aufzubegehren, dem Netz den Stecker zu ziehen, sich nur noch persönlich zu begegnen und Briefe zu schreiben. Vielmehr plädieren sie für eine friedliche Koexistenz – und erinnern gleichzeitig an den Wert des temporären Abschaltens.
Berühmte Werke entstanden in totaler Abgeschiedenheit
Damit sind sie in guter Gesellschaft. Es gibt zahlreiche prominente Künstler, deren beste Werke in totaler Abgeschiedenheit und bei voller Konzentration entstanden. Der französische Essayist Michel de Montaigne beispielsweise arbeitete im 16. Jahrhundert bevorzugt in seiner Privatbibliothek im Südturm seines Châteaus. Mark Twain schrieb „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ in einer einsamen Hütte auf einer Farm. Die stand so weit vom Haupthaus entfernt, dass seine Familie in ein Horn blasen musste, um ihn zu den Mahlzeiten zu rufen.
Ob Sokrates oder Platon zu ähnlich genialen Gedanken fähig gewesen wären, wenn neben ihnen ständig ein Smartphone geblinkt, gepiept und vibriert hätte? Cal Newport hat daran so seine Zweifel.