Der übertriebene Anstieg des Anteils der Studierenden unter jungen Menschen gefährde die Leistungsfähigkeit der dualen Berufsbildung in Deutschland, warnen der Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen (BLBS) und der Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen (VLW). Schuld daran sei auch die Fixierung der Bildungsdebatte auf das Gymnasium und die Hochschulen. Das habe dazu geführt, dass nicht nur akademisch gebildete Eltern ihre Kinder unbedingt zu Abitur und Hochschulstudium anhielten, weil sie die Alternativen der beruflichen Qualifikation unterschätzen. „Da ist in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren etwas gewaltig schief gelaufen in der der gesellschaftspolitischen Vermittlung“, sagt Wolfgang Lambl, stellvertretender Bundesvorsitzender des BLBS, im Gespräch mit der WirtschaftsWoche.
Angelika Rehm, die Bundesvorsitzende des VLW, spricht ähnlich wie der frühere Kulturstaatsminister und Bildungsphilosoph Julian Nida-Rümelin von einem „Akademisierungswahn“. „Wir schielen viel zu sehr auf das angelsächsische Modell einer Akademisierung der Berufe.“ Schuld an der Schieflage der deutschen Bildungsdiskussion sei auch die OECD: „Die Macher der OECD-Studien kennen nicht unser berufliches Schulwesen und meinen daher, das Allheilmittel sei, dass alle Abitur machen.“ Die daraus abgeleiteten bildungspolitischen Forderungen ignorierten, dass das duale berufsbildende System in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit Jahrzehnten das Rückgrat einer funktionierenden Wirtschaft sei und nun durch sinkende Schülerzahlen und öffentliche Vernachlässigung geschwächt werde.
Die innerdeutsche Debatte werde, so kritisiert Rehm, vor allem von Menschen in Politik und Medien geführt, die selbst den Weg über allgemeinbildende Schulen und Universitäten genommen haben, und denen das berufliche Schulwesen wenig bekannt sei.
Unterstützung erhalten die Berufsschullehrer von Josef Kraus, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands. Er widerspricht der von OECD und vielen Bildungspolitikern vertretenen These, dass eine höhere Akademikerquote im Interesse der Beschäftigungsmöglichkeiten junger Leute sei: „Dadurch dass man alle Berufe akademisiert, gibt es nicht automatisch mehr Arbeitsplätze.“ Das entscheidende Kriterium sei die Jugendarbeitslosigkeit, und da stehe Deutschland zusammen mit Österreich und der Schweiz einmalig gut da – dank des dualen Systems. „Die Behauptung der OECD, es gäbe eine Korrelation zwischen Wohlstand und Akademikerquote ist völlig falsch“, kritisiert Kraus. „Ich verstehe auch nicht, dass die Bundesregierung und auch die Kultusministerkonferenz nicht der OECD und der Bertelsmann-Stiftung endlich mal widersprechen, weil deren Studien völlig an der Wirklichkeit vorbeigehen.“
Lehrer werden knapp
Auch der deutschen Bundesregierung werfen die Lehrerverbände mangelhafte Unterstützung und Wertschätzung des bewährten Systems der dualen Berufsbildung vor. „Die deutschen Berufsabschlüsse sind im europäischen Qualifikationsrahmen unterbelichtet eingestuft. Viele dieser Abschlüsse gehören auf der Ebene eines Bachelor eingestuft. Da hat die Bundesregierung in Brüssel geschlafen“, kritisiert Josef Kraus.
Der geringe Stellenwert der beruflichen Bildung in der Bildungspolitik spiegelt sich in der Kultusministerkonferenz wider. Da gibt es einen Schulausschuss, aber für die beruflichen Schulen nur einen Unterausschuss.
„Die berufliche Bildung leidet auch darunter, dass sie auf der einen Seite von der Bundespolitik abhängig ist, wenn es um den dualen Partner, also den Ausbildungsbetrieb geht, und auf der anderen Seite die beruflichen Schulen wie alle anderen der Kulturhoheit der Länder unterstehen“, sagt Rehm. „Wir wünschen uns eine stärkere Koordination der beruflichen Bildung über Ländergrenzen hinweg.“
Der geringe politische und öffentliche Rückhalt der beruflichen Schulen hat schon jetzt konkrete Auswirkungen auf die Qualität der Ausbildung und die Attraktivität des Lehrerberufs. „Wenn an beruflichen Schulen Unterrichtsstunden ausfallen müssen, weil Personal fehlt, regt sich keiner auf“, sagt Lambl. Auch die Ausbildungsbetriebe könnten da mehr öffentlichen Druck ausüben, fordert Rehm. „Die müssten eigentlich aufschreien, wenn Unterricht ausfällt.“
Ausfallende Unterrichtsstunden an beruflichen Schulen dürften in Zukunft eher noch zunehmen. Der Grund sind fehlende Lehrer. „Allein in Bayern hätten wir eigentlich 600 Berufsschullehrer einstellen müssen“, sagt Lambl, „aber wir hatten nur 351 fertige Referendare. Das ist in den anderen Bundesländern ähnlich.“ Die Kultusministerien müssen daher jetzt zu drakonischen Mitteln greifen, das heißt Geld bereitstellen, um Ingenieure und andere potentielle Lehrer aus der Wirtschaft anzuwerben. In Baden-Württemberg bekommen Berufsschulreferendare zusätzlich 900 Euro pro Monat. In Nordrhein-Westfalen gibt es das Angebot eines Trainee-Programms bei voller Bezahlung.
Zum Vergleich: In Bayern hätten zum jetzt begonnenen Schuljahr 2060 Realschullehrer eingestellt werden können, 278 wurden eingestellt, über 2000 fertig ausgebildete Gymnasiallehrer hätten eingestellt werden können, 794 wurden eingestellt.
Berufsschulen wollen in Weiterbildung einsteigen
Fehlender politischer Rückhalt ist auch der Grund dafür, dass die Möglichkeiten der beruflichen Schulen in der Weiterbildung nicht genutzt werden, obwohl die Schulen selbst daran großes Interesse zeigen. „Ich sehe Weiterbildung eigentlich als originären Bildungsauftrag der beruflichen Schulen“, sagt Rehm. Bisher allerdings dürfen die Schulen diesen Auftrag nicht erfüllen.
„Uns sind durch das Kooperationsverbot die Hände gebunden“, sagt Lambl. „Wenn jemand mit einem Bildungsgutschein zu einer unserer Schulen kommt, um einen Schweißkurs zu machen, dürfen wir den nicht einlösen. Wir fordern die künftige Bundesregierung auf, das zu ändern.“
Der Weiterbildungsmarkt wird bislang von den Industrie- und Handelskammern, den Handwerkskammern, den Branchenverbänden und auch den Gewerkschaften beherrscht. Diese verhinderten, so Lambl, mit politischen Mitteln die Beteiligung der beruflichen Schulen an dieser für sie lukrativen Aufgabe. Deren Argument ist dabei, dass die beruflichen Schulen öffentlich finanziert sind. „Doch die Kammern, Verbände und Gewerkschaften verschweigen dabei, dass sie natürlich auch öffentliche Gelder für Fortbildungsangebote erhalten, und dass sie dafür oft auch Lehrer von beruflichen Schulen verpflichten“, so Lambl.
Die Folge sei, dass die technischen Ausstattungen der beruflichen Schulen ab 16 Uhr ungenutzt bleiben. „Das ist eine immense Verschwendung von Steuergeld, die mir im Herzen weh tut. Auch die Fachkompetenz unserer Lehrer liegt da teilweise noch brach“, sagt Lambl.