In der Gesellschaft ist es immer noch leichter mit einer körperlichen als mit einer seelischen Krankheit umzugehen, sagt Irmgard Pfaffinger, Vorsitzende des Bundesverbandes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Denn für viele weckt der Gedanke, einen Psychologen aufzusuchen gleich die Befürchtung, dadurch als irre zu gelten.
Vor allem Menschen, die ein niedriges Selbstbewusstsein plagt, fällt der Entschluss zur Therapie schwer, sagt Stefanie Stahl, Bestsellerautorin und Therapeutin: „Der Gang zum Psychologen kann dann zusätzlich am eigenen Selbstwertgefühl kratzen, weil bei vielen Betroffenen das Gefühl entsteht, es allein nicht zu schaffen.”
Dabei ist der therapeutische Prozess manchmal wichtig, um bei bestimmten Problemen die Knoten zu lösen und nicht ständig auf gleicher Stelle zu treten. Genau so entstehen nämlich chronische Depressionen, Selbstzweifel und Unzufriedenheiten. Stefanie Stahl rät dazu, auch auf Menschen aus dem eigenen Umfeld zu hören, weil manchen die Fähigkeit zur Selbstreflektion fehlt. Wenn Familie und Freunde eine Therapie nahelegen, sollte man zumindest mal einen Gedanken daran verschwenden.
Was bei der Arbeit stresst
Was sorgt im Büro für Stress? Der Personaldienstleister Robert Half hat im höheren Management nach den wichtigsten Gründen gefragt. Dabei gaben 18 Prozent der Befragten zu viel Verantwortung oder ständiges an die-Arbeit-denken auch in der Freizeit als Grund für Stress bei der Arbeit an. Nur in Tschechien können die Beschäftigten außerhalb des Arbeitsplatzes schwerer abschalten - dort gaben 28 Prozent an, dauernd an die Arbeit denken zu müssen. Auf der anderen Seite der Skala ist Luxemburg: nur fünf Prozent haben dort dieses Problem.
Keinen Stress haben dagegen nur sieben Prozent der deutschen Befragten. Genauso niedrig ist der Anteil derer, die ihren aktuellen Job nicht mögen.
Unangemessener Druck vom Chef nannten 27 Prozent der Befragten hierzulande als Stressgrund. In Brasilien sind es dagegen 44 Prozent.
Wenn der Chef sich eher um sein Handicap kümmert, statt ordentlich zu führen: 28 Prozent der Befragten sind mit der Managementfähigkeit des Chefs unglücklich. Das Unvermögen des führenden Managers, das zu Stress führt, scheint in Luxemburg relativ unbekannt zu sein - nur 11 Prozent der Befragten sind dort mit den Befragten unglücklich, in Dubai sind es gar neun Prozent.
Dass unangenehme Kollegen oder fieser Büroklatsch zu Stress führen kann, ist allgemein bekannt. Dementsprechend führen auch 31 Prozent der Befragten das als Stressgrund an - der Anteil derer, die das ähnlich sehen, liegen in allen anderen Ländern fast gleich hoch - außer in Brasilien: 60 Prozent der Befragten geben unangenehme Kollegen und fiesen Büroklatsch als Stressgrund an.
Ein weitere Stressgrund: personelle Unterbesetzung. 41 Prozent der Befragten sehen das als wichtigen Grund für Stress bei der Arbeit an - ein Wert, der fast in allen Ländern ähnlich ist.
Doch am problematischsten, laut der Studie: die hohe Arbeitsbelastung. 51 Prozent der Befragten gaben dies als Stressgrund an. Deutschland liegt damit im Schnitt, auch in den anderen elf Ländern ist ein ähnlich hoher Anteil der gleichen Meinung.
Um die Therapie gesellschaftlich zu enttabuisieren, sollte laut Stahl lieber der Begriff „Reflektion” genutzt werden. „Die Selbsterkenntnis ist nämlich der Königsweg, um ein zufriedenes Leben zu führen - aber auch, um ein besserer Mensch zu werden”, so die Therapeutin.
Dass der Bedarf für Therapien vor allem wegen der hiesigen Arbeitskultur gestiegen ist, ist für Irmgard Pfaffinger glasklar: „Durch die Arbeitsverdichtung an den verschiedenen Arbeitsplätzen nehmen auch die psychischen Belastungen zu.”
Dem gesellschaftlichen Druck, vor allem im Arbeitskontext, könnten viele Menschen durch eine Therapie und das regelmäßige Gespräch mit einer Expertin oder einem Experten einen Ausgleich schaffen. Laut Pfaffinger sollte die Überlastung am Arbeitsplatz als Problem konkret benannt werden und die gesellschaftliche Debatte dahinter kritisch geführt werden: „Es kann nicht sein, dass immer weniger Menschen immer mehr arbeiten müssen.”
Fünf Tipps zur Stressbewältigung
Sagen Sie auch mal „Nein“. Haben Sie gerade keine Kapazitäten für eine neue Aufgabe oder ein Projekt, sagen Sie frühzeitig Bescheid. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Sie mit „Ja“ antworten müssen. Aber vielleicht hat ein Kollege gerade mehr Zeit oder die Aufgabe ist doch nicht ganz so dringend.
Niemand ist perfekt, stellen Sie daher keine zu hohen und unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Damit blockieren Sie sich nur.
Identifizieren Sie die Auslöser. Jeder Mensch gerät durch andere Dinge unter Druck. Um einen Überblick zu behalten, hilft es, sich eine Liste mit seinen persönlichen Stressfaktoren anzulegen. Stört Sie zum Beispiel das ständige „Pling“ eingehender E-Mails, stellen Sie den Computer auf lautlos und bestimmen Sie einen festen Zeitraum, in dem Sie Mails beantworten.
Stress zu unterdrücken, ist auf lange Sicht keine Lösung. Früher oder später wird er wieder hochkommen. Um das zu vermeiden, sprechen Sie darüber mit einem Kollegen und beziehen Sie auch ihren Chef mit ein. Allein das Gefühl, aktiv etwas gegen den Stress zu tun, hilft bei der Bewältigung.
Machen Sie Sport – Bewegung ist eine gute Methode, um Stress entgegenzuwirken, denn durch Sport werden Glückshormone wie Dopamin ausgeschüttet.
Im Alltag hilft schon ein kurzer Spaziergang zur Kantine oder morgens eine Station früher auszusteigen und den restlichen Weg zur Arbeit zu laufen. Nehmen Sie die Treppe statt den Aufzug und laufen Sie zum übernächsten Drucker statt zum nächstgelegenen.
Der unkontrollierbare Stress am Arbeitsplatz kann in manchen Fällen sogar in eine Depression münden. Laut Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sind in Deutschland rund 6,2 Millionen Menschen von einer solchen betroffen - Tendenz steigend. Viele von ihnen bleiben unbehandelt.
In einigen Fällen, liegt das daran, dass die Krankheit unerkannt bleibt. In anderen aber, suchen sich Betroffene keine fachliche Hilfe - auch aufgrund des Stigmas und der Idee, sie bräuchten doch keine Therapie. Stefanie Stahl hat in ihrer Arbeit als Therapeutin allerdings folgende Erkenntnis erlangt: „Häufig sind es genau jene, die sich am aggressivsten gegen eine Psychotherapie wehren, die sie am dringendsten nötig hätten.”