Bewerbung Warum der Lebenslauf überschätzt wird

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Die Frage nach dem persönlichen Lebensentwurf

Auch wenn die Persönlichkeit eines Bewerbers zum Unternehmen und der entsprechenden Position passt, ist dies - wie auch beim Dating - noch kein Garant dafür, dass die beiden Parteien langfristig zusammenbleiben. Schließlich ändern sich Menschen beziehungsweise deren Identitäten über die Zeit. Oder sind Sie genau zu dem geworden, was Ihr zehnjähriges Ich sich gewünscht hätte?
Dennoch lohnt es sich, die Frage nach dem persönlichen „Lebensentwurf“ zu stellen. Denn gelingt es Unternehmen, die individuelle Zukunftsvision eines Bewerbers und die dahinterliegenden Werte und Bedürfnisse zu ergründen, findet ein Kennenlernen auf einer sehr individuellen Ebene statt.


Auf ebendiese Ebene wagt sich zum Beispiel der kanadische Sportartikelhersteller Lululemon. Dieser hat die Frage nach dem Lebensentwurf bereits 1998 in der Unternehmenskultur verankert. Lululemon-Mitarbeiter werden im Rahmen eines dafür entwickelten Programms dabei unterstützt, ihre persönliche Zehnjahresvision für Karriere, Gesundheit und Privatleben zu erarbeiten. Mit einem speziellen Arbeitsblatt werden Fragen nach persönlichem Umfeld, Leidenschaft, Erfahrung, Inspiration, Errungenschaften und vielen weiteren Lebenszielen gestellt. Auf dieser Basis werden konkrete und messbare Zehn-, Fünf- und Einjahresziele abgeleitet.


Bemerkenswert ist, dass Lululemon jeden Mitarbeiter dazu ermutigt, das Arbeitsblatt mit dem persönlichen Lebensentwurf am eigenen Arbeitsplatz aufzuhängen. Dies soll bewirken, dass die Beziehung der Mitarbeiter untereinander ein tiefergehendes Niveau erreicht, denn Träume und Wünsche sagen viel über die eigene Persönlichkeit aus. Darüber hinaus können sich Mitarbeiter gegenseitig bei der Erreichung des persönlichen Lebensentwurfes helfen.

Forscher des Wissenschaftszentrums in Berlin wollten herausfinden, worauf Personaler bei Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz besonders achten. Das Ergebnis hat sie selbst überrascht.
von Angelika Ivanov

Warum ist dieses Beispiel so wichtig für den Bereich Recruiting? Weil es eine völlig neue Frage stellt. Könnten wir nicht statt: „Wer bist Du und warum passt Du zu der ausgeschriebenen Stelle?“, viel besser fragen: „Wer bist Du, wer willst Du sein und wie können wir Dir dabei helfen?“
Auf diese Weise würde man vermeiden, dass ein Bewerbungsprozess primär aus Werbung besteht. Man würde neben der Eignung die wahren Motive eines Mitarbeiters erfahren. Dies erlaubt nicht nur, kurzfristig besser einzuschätzen, ob der Kandidat zum Unternehmen passt, sondern auch, ihn bestenfalls langfristig in der Erreichung seines Lebensentwurfes zu unterstützen.

Aufmerksame Leser werden nun sagen, dass die Frage „Wo sehen Sie sich selbst in fünf oder zehn Jahren?“ zum Standardrepertoire eines jeden Recruiters zählt. Und das ist richtig. Doch greift diese Frage schlichtweg zu kurz, zielt Sie doch eher auf Karriereentscheidungen ab – zum Beispiel: „Ich sehe mich in fünf Jahren als Teamleiter mit zwei Jahren Führungserfahrung eines kleinen Teams am Sprung zur ersten höheren Managementposition.“
Was würden Sie sagen, wenn der Kandidat antwortet: „Ich sehe mich in zehn Jahren als jemanden, der einen Marathon gelaufen ist, an der US-Westküste lebt und umgeben ist von seiner Familie, mit der er sehr viel Zeit verbringt“? Bei welchem der beiden Kandidaten haben Sie es wohl geschafft, eine so individuelle Beziehung aufzubauen, dass dieser Ihnen einen „wahren“ Blick in seinen Lebensentwurf erlaubt?

Der persönliche Lebensentwurf, die individuelle Persönlichkeit, aktuelle Fähigkeiten, gesammelte Erfahrungen oder bestimmte (vergangenheitsbezogene) Datenpunkte: Welche Informationen werden schlussendlich für die richtige Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten benötigt? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage kann es nicht geben, da Unternehmen und deren Anforderungen an Mitarbeiter zu unterschiedlich sind.

Lebensläufe beziehungsweise historische Daten und Fakten werden auch in den nächsten Jahren noch wichtig sein, denn es gibt Berufe, in denen man sehr genau wissen möchte, welche Erfahrungen und Qualifikationen ein Bewerber mitbringt. Einem Facharzt ohne den Nachweis einer entsprechenden Ausbildung würde man wohl kaum das Leben der Patienten anvertrauen und eine Professur nicht ohne nachweisbar akademische Qualifikation vergeben. Jedoch ob beispielsweise jeder Manager ein BWL-Studium braucht beziehungsweise einen bestimmten Notenspiegel, kann man zumindest kritisch hinterfragen.

Dass ausgerechnet unternehmerische Persönlichkeiten gerne über „ungerade“ Lebensläufe verfügen, ist inzwischen auch kein Geheimnis mehr. So ergeben sich für Branchen, Unternehmen, Abteilungen und Positionen individuelle Charakteristika, die es bei der Auswahl der richtigen Recruiting-Maßnahmen zu berücksichtigen gilt. Und eines sollte im Bewerbungsprozess zudem niemals in Vergessenheit geraten: Es handelt sich noch immer um Menschen. Es gilt daher, stets genau hinzusehen und sich nicht von Zahlen, Daten, Fakten und Tagesleistungen an Auswahltagen täuschen zu lassen.

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