WirtschaftsWoche: Herr Yagyu, worin sehen Sie die größte Herausforderung für deutsche Unternehmen, wenn sie mehr „lean“, also gewinnträchtiger produzieren wollen?
Shunji Yagyu: Viele Unternehmen wollen nach meiner Erfahrung Lean-Methoden wie die Just-in-time-Zulieferung, Standardisierung und Automatisierung möglichst schnell einführen und glauben dann, dass sie dann auch „lean“ geworden sind. Aber wenn diese Methoden per Top-Down-Anweisung durchgesetzt werden, ist das Ganze schon zum Scheitern verurteilt.
Wieso? Was halten Sie denn neben den Methoden selbst für notwendig?
Das Management muss den Beschäftigten den Freiraum geben, ihren Arbeitsplatz auf eine strukturierte Weise selbstbestimmt zu gestalten. Mitarbeit und vor allem das Mitdenken müssen aktiv gefordert und gefördert werden, damit der Einzelne proaktiv Verantwortung übernimmt. Das Team sucht gemeinsam den größtmöglichen Konsens über die beste Vorgehensweise. Es ist nämlich der Mensch, der die Wertschöpfung erhöht, nicht die Methoden. Die Unternehmenskultur muss sich also ändern. Das ist meine Kernbotschaft.
Außerhalb von Japan setzt man Kaizen und Lean aber vor allem mit dem Prozess der kontinuierlichen Verbesserung in der Produktion gleich.
Dieses Missverständnis macht mir oft zu schaffen. Wenn man sich die japanischen Schriftzeichen anschaut, dann steht die Silbe „kai“ für „erneuern“ oder „neu ansetzen“ und die Silbe „zen“ für „das Gute“. Kaizen heißt also die „Erneuerung zum Guten“. Weil man bei Toyota permanent Kaizen macht, wurde es auf Englisch als „kontinuierliche Verbesserung“ übersetzt. Darunter versteht man dann ein betriebliches Vorschlagswesen unter Einbeziehung der Mitarbeiter für konkrete Verbesserungsvorschläge.
Wie lautet dann das „richtige“ Verständnis von Kaizen?
Kaizen zielt auf die Qualität des Denkvorgangs selbst. Von allen Arbeitsfaktoren kann nur der Mensch aus sich selbst heraus lernen und wachsen und er ist es auch, der jede Art von Handlung vornimmt. Nur wenn der Mensch ständig das Verbessern übt, indem er die eigenen Prämissen in Frage stellt und neue Lösungsansätze sucht, wird auch der Prozess in seiner Umgebung besser. Erst dadurch kann er Grenzen überschreiten, es gelingen ihm dann Innovationen im Sinne einer kompletten Erneuerung.
Wie schwierig ist die Vermittlung dieser Art von Denken?
Wenn man ein Unternehmen berät, das mit der Herstellung von Gütern seine Gewinne erarbeitet, dann ist es relativ einfach. Die Dinge sprechen ja dann für sich. Anhand der Art und Weise, wie man die Produkte macht, lässt sich sehr schnell vermitteln, worauf man da achten muss, damit die Wirtschaftlichkeit realisiert werden kann. Dieser Punkt lässt sich jedem verständlich machen, der aus so einer Branche kommt.
Wie muss ich mir Ihre Beratungsleistung konkret vorstellen?
Beim „Monozukuri“, das ist das japanische Wort für „Fertigung“ und bedeutet wörtlich „Sachen machen“, sind die unternehmerischen Erfolge eine natürliche Folge des verbesserten Zusammenspiels von Menschen, Maschinen, Material und Informationen. In meinen Workshops übe ich mit den Mitarbeiterteams unterschiedlicher Bereiche ein, wie man die Kompetenz der Menschen bereichs- und hierarchieübergreifend organisiert, um unternehmerische Ziele wirksamer und wirtschaftlicher zu erreichen.
Wie viel Verbesserung wird dadurch möglich?
Die Lean-Methoden können die Qualität der Produkte in vorher unvorstellbare Dimensionen erhöhen und die Durchlaufzeit verringern. Qualität wird dann nicht in Prozent, sondern im Millionstel-Bereich gemessen, Durchlaufzeit nicht mehr in Tagen und Wochen, sondern in Stunden und Minuten. Gleich wichtig ist eine Verbesserung der Motivation der Beschäftigten, indem sie ihre Arbeit und die Zusammenarbeit im Team in gewissem Maße selbst gestalten und mitbestimmen dürfen. Hohe Erfolge lassen sich nur erreichen, wenn sich die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter in deren Sinne kontinuierlich verbessern.
An welcher Stelle wird die Umsetzung dann schwierig?
Häufig achtet man zu sehr auf die Methoden und verliert den zweiten Aspekt, den Menschen, aus den Augen. Bei Toyota sagt man: „Sachen machen beginnt mit Menschen bilden“ oder frei übersetzt „Wertschöpfung durch Wertschätzung“. Ein Unternehmen wirtschaftet ja mit Menschen, die etwas gemeinsam erreichen wollen. Sie entscheiden darüber, ob diese wirtschaftliche Organisation funktioniert. Und das ist eben etwas, das man sich immer wieder vor Augen halten muss.
In welchen Bereichen eines Unternehmens ist denn nach Ihrer Erfahrung die Einführung von Lean- und Kaizen-Denken am notwendigsten?
Ich blicke immer auf die ganze Organisation und versuche das Zusammenspiel der einzelnen Fachbereiche zu optimieren. Aber den ersten Hinweis bekommt man in der Produktion, das ist der Einstiegspunkt. In der Produktion nimmt alles nicht Durchdachte Gestalt an, dort kommt heraus, was in der Gesamtorganisation nicht genug berücksichtigt wurde. Dinge zeigen an, was wir uns gedacht haben. Von dort kann man sich dann an die anderen Stellen heranarbeiten, bei denen es Nachholbedarf gibt.
Sie waren an der Einführung des Toyota-Produktionssystems bei General Motors in den USA beteiligt. Wie kamen Sie danach an die Lehraufträge in Deutschland?
Es gab Mitte der Neunzigerjahre den großen Wunsch in Deutschland, die „Lean-Produktion“ beziehungsweise das „Toyota-Produktionssystem“ zu lernen. Das liegt sicher daran, dass Deutschland und Japan besonders stark in der Fertigungsindustrie sind und gute Arbeit abliefern wollen statt zu pfuschen. Da sehe ich das verbindende Element zwischen Deutschland und Japan.
Was war Ihr größter Erfolg in Deutschland?
Ich habe vier Unternehmen als Kunden, die ich seit mehr als 15 Jahren regelmäßig berate. Diese langfristige Zusammenarbeit ist wichtig, damit sie wirklich Früchte trägt. Dass ich solange für sie arbeiten durfte, sehe ich auch als meine größte Leistung. Als Berater sollte man sich ja nie einbilden, dass man eine Organisation von mehreren tausend Leuten erfolgreich zu einem Ziel führen kann. Man berät sie, weil sie etwas wissen wollen und wenn sie gut sind, werden sie es zu nutzen wissen.
Tun sich Deutsche schwerer als Japaner, das Kaizen-Denken zu erlernen?
Nein, denn es ist gar nicht so schwer zu verstehen, was dieses System möchte und was es macht. Was gut ist, ist immer gut, und wenn man davon überzeugt ist, dann sind alle Menschen davon überzeugt. Das hat mit Nationalität oder Herkunft gar nichts zu tun.
Da bleiben aber bestimmt einige Skeptiker übrig. Wie überzeugen Sie solche Leute?
Es ist verschwendete Energie, wenn man sich mit denjenigen auseinandersetzt, die gar nicht vertrauen wollen. Viel lieber sucht man sich Menschen, die sich dafür interessieren und die etwas Neues lernen wollen. Die Dinge sprechen am Ende für sich.
Wie messen Sie den Fortschritt Ihrer Lehrtätigkeit?
Man muss in die Gesichter und Augen der Menschen in den Unternehmen sehen. Wenn die anfangen zu leuchten und eine lebendige Mimik entwickeln, dann geht es vorwärts.
Aber viele Firmen achten vielleicht eher auf den Gewinn als auf die Gesichter ihrer Mitarbeiter...
Natürlich geht es bei der Lean-Produktion in erster Linie darum, den Gewinn zu sichern und zu steigern. Je besser alle Erkenntnisse der Mitarbeiter in die Prozesse einfließen, desto höher die Arbeitsqualität – und am Ende auch der Gewinn eines Unternehmens. Wenn umgekehrt aber ein Unternehmen nur nach Gewinnmaximierung strebt, missachtet es oft seine Mitarbeiter. Solche Unternehmen haben nach meiner Überzeugung keine Zukunft.
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