Neues Buch von Robert Beachy Das schwule Berlin der Kaiserzeit

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Gesellschaftliche Diskussionen über Homosexualität

Die breite gesellschaftliche Diskussion über Homosexualität nahm in jenen Jahren ihren Anfang. Sie kreiste etwa darum, ob Homosexualität angeboren oder kulturell begründet sei, ob man sie unterdrücken solle, heilen könne oder ausleben müsse – und sie machte natürlich auch nicht vor den Schwulen selbst halt, die sich fragten: Ist Homosexualität eine Privatsache, die niemanden etwas angeht – oder ein Politikum, das Outings durch Dritte rechtfertigt? Und natürlich machte damals schon ein bis heute virulenter Verdacht, bei Homosexualität handele es sich um eine Art kulturellen Virus, vor dem die Gesellschaft sich in Acht zu nehmen habe, die Runde:  „Homosexualität ist ansteckend und verbreitet… sich in dem Maße, in dem sie untersucht und besprochen wird.“

Im Zentrum der Diskussion stand Magnus Hirschfeld, der sein „Wissenschaftlich-humanitäres Komitee“ als Forschungsstätte und Agitationsinstrument verstand. Systematisch nahm sich das WhK die wichtigsten Berufsgruppen im Kaiserreich vor, schrieb Politiker, Ärzte und Priester an, warb für eine Strafrechtsreform. Aufklärungsschriften wie der Titel „Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen?“ erreichten bis 1911 immerhin eine Auflage von rund 50.000 Stück. Anders als etwa in Großbritannien wurde derlei Aktivitäten in Deutschland nicht verboten, sondern unterstützt: etwa von Sozialdemokraten wie August Bebel oder Eduard Bernstein, von Künstlern wie Walter Leistikow oder Max Liebermann. Dass sich so etwas wie ein „schwuler“ kultureller Kanon entwickeln und Homosexualität zu einem intellektuellen Thema werden konnte, so Beachy, sei daher vor allem der „relativ liberalen Zensur im wilhelminischen Deutschland“ zu verdanken gewesen.

Informationen zur Doppelausstellung in Berlin

Welche Gründe es für diese Liberalität damals gab – darüber allerdings verrät uns Beachy viel zu wenig. Das ist nicht nur schade, sondern auch merkwürdig, weil er die Eulenburg-Affäre ins Zentrum seiner Geschichte über „Das andere Berlin“ stellt ­– und weil derselbe Eulenburg ihn auf eine womöglich entscheidende Spur hätte bringen können: Das hohe Ansehen nämlich, in dem die homoerotisch aufgeladene Freundschaft im deutschen Klassizismus von Goethe und Winckelmann (und auch in der Romantik) stand. „Ich bin in meiner Jugend ein enthusiastischer Freund gewesen und bin stolz darauf, dass ich gute Freunde gehabt habe!“, so Eulenburg in einer seiner ersten Erklärungen während der Prozessjahre: „Das Beste, was wir Deutschen haben, ist die Freundschaft! Ich habe Briefe geschrieben, die überschwellen von freundschaftlichen Empfindungen, und ich mache mir absolut keinen Vorwurf daraus, denn wir kennen die Briefe unserer großen Heroen, wie Goethe usw.“

War nicht der deutsche Klassizismus damals tatsächlich so etwas wie eine Brücke, die die Idee der ausgezeichneten Antike mit der Idee der ausgezeichneten deutschen Kulturnation am Beginn des 20. Jahrhunderts verband – Ideen, in deren Schoß auch Vorstellungen vom überragenden Wert der Freundschaft und Knabenliebe, der Männergesellschaft und der Homoerotik gedeihen konnten? Beachy verfolgt diesen Gedanken nach vorne, in Richtung Hans Blüher und Wandervogel-Bewegung, in Richtung Männerbund-Theorie und homosozialer Kameraderie, in Richtung Maskulinismus und pfadfinderische Virilität – und er arbeitet dabei zum Beispiel auch fein heraus, wie schwer sich speziell Homosexuelle mit dem Feminismus taten.

Die kulturellen Wurzeln aber, die „die Erfindung  der Homosexualität“ in Deutschland wahrscheinlich machten, legt Beachy nicht frei. Sei’s drum. Sein Buch ist eine faszinierend detailreiche Doppelgeschichte der Emanzipation und Stigmatisierung der gleichgeschlechtlichen Liebe im Deutschland der Kaiserzeit und Weimarer Republik, es kommt parallel zu einer Doppelausstellung in Berlin auf den Markt – und es klärt uns in angenehm irritierender Weise darüber auf, dass unsere gegenwärtigen Diskussionen über die Homo-Ehe buchstäblich von gestern sind.

Literaturhinweis: Dieter Richter: Friedrich Alfred Krupp auf Capri. Ein Skandal und seine Geschichte, in: Michael Epkenhans, Ralf Stremmel (Hg.): Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, C.H. Beck

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