Strukturwandel Der Kohleausstieg könnte Arbeiter 155.000 Euro kosten

Der Kohleausstieg könnte die Arbeiter im Braunkohletagebau wie hier im brandenburgischen Welzow-Süd teuer zu stehen kommen.  Quelle: dpa

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will die Wirtschaft schneller emissionsfrei machen und dazu den Kohleausstieg beschleunigen. Darunter leiden die Beschäftigten in der Branche. Eine Studie zeigt, wie der Staat ihre Verluste ausgleichen könnte.

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Man kann Robert Habeck nicht vorwerfen, er würde die Herausforderungen des Klimaschutzes kleinreden. „Gigantisch“ sei die Aufgabe, die vor ihm liegt, „mega ambitioniert“ die Lösungen, die er dazu erdacht hat, sagte er gerade vor der Bundespressekonferenz, als er seine Eröffnungsbilanz zum Klimaschutz vorstellte.

Diese fiel zum Start recht bescheiden aus: Die bisherigen Maßnahmen? In allen Sektoren unzureichend. Die Klimaziele für 2022 und 2023? Sind schon jetzt kaum erreichbar. Was jetzt nötig ist? Die „Geschwindigkeit unserer Emissionsminderung verdreifachen“, fordert Habeck, damit die deutsche Wirtschaft bis 2045 wirklich klimaneutral wird.

Bei der großen grünen Beschleunigung gibt es allerdings ein paar Hürden, zum Beispiel „individuelle Betroffenheiten“, wie Habeck es ausdrückt. Damit meint er die Menschen, die durch seine Pläne nicht besser, sondern erst einmal schlechter gestellt werden. Und der Klimaminister hat auch ein prägnantes Beispiel parat: „Immer dann, wenn Windkraftanlagen oder Stromtrassen gebaut werden, sagen Leute: Aber bitte nicht da, da gehe ich sonntags immer spazieren mit meinem Waldi.“ Während sich das Herrchen von Waldi aber noch für eine andere Gassiroute erwärmen lassen könnte, haben andere Betroffene mit tiefgreifenden Veränderungen zu kämpfen. Zum Beispiel die Angestellten in der Kohleindustrie. 

(Lesen Sie auch: Wer vom Kohleausstieg profitiert – und wer nicht)



Eine neue Studie der Ökonomen Luke Haywood vom Berliner Mercator Forschungsinstitut für globale Gemeingüter und Klimawandel und Markus Janser und Nicolas Koch vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, wie die Kohlearbeiter von den beschleunigten Kohleausstiegsplänen getroffen werden – und wie ihre persönlichen Schäden gelindert werden könnten. So würde ein sofortiger Stopp des Kohleabbaus jeden Beschäftigten 155.000 Euro kosten – etwa sechs Jahresgehälter. Mit der richtigen politischen Intervention könnten 90 Prozent dieser Verluste aber abgefedert werden.

Karrieren von knapp 12.000 Arbeitern betroffen

Die Forscher greifen für ihre Analyse auf Erwerbsbiografien von Menschen zurück, die zwischen 1975 und 2017 im Kohlesektor tätig waren. Dabei interessieren sie sich vor allem dafür, ob sie einen Jobverlust erlitten haben und wie er sich individuell bemerkbar gemacht hat: Wie lange war ein ehemaliger Kohlearbeiter arbeitslos? Verdiente er in einem anschließenden Job ähnlich viel wie zuvor? Und war sein neuer Job ähnlich sicher?

Daraus bauten sie ein Modell, um die Karriereverläufe der heute noch knapp 12.000 Menschen zu berechnen, die in der Kohleindustrie arbeiten und deren Jobs in den nächsten zehn bis 20 Jahren verloren gehen. Vor allem betrifft ihre Analyse die Arbeiter im Braunkohleabbau. Während Steinkohle bereits seit 2018 nicht mehr aus unterirdischen Flözen gefördert wird, sind die Braunkohletagebaue weiterhin aktiv. Das Verfeuern des Brennstoffs zur Energieerzeugung stößt große Mengen Kohlenstoffdioxid aus. Eine Praxis, die laut Koalitionsvertrag „idealerweise“ 2030 ein Ende finden wird.

Arbeitslosigkeit ist nicht das größte Problem

„Viele sehen nur die Zahl der Arbeitsplatzverluste“, sagt Studienautor Luke Haywood. Was das für die Menschen im einzelnen bedeute, bleibe dabei oft im Unklaren. „Einen Job zu verlieren kann sehr schlimm sein, wenn man danach nichts findet. Es könnte aber auch sogar sein, dass man danach etwas Besseres findet.“

Die Kosten, die der Kohleausstieg den in der Branche beschäftigten Menschen bescheren würde, berechnen die Ökonomen um Luke Haywood wie folgt: Nach dem Ausstieg stünde für die meisten eine Phase der Arbeitslosigkeit an. In dieser Zeit liegt das Einkommen auf der Höhe des Arbeitslosengelds, also bei 60 bis 67 Prozent des letzten Nettogehalts. Wer danach außerhalb des Kohlesektors einen Job findet, könnte ebenfalls weniger verdienen als zuvor. Aus ihren Daten leiten die Ökonomen ab, dass ein Kohlearbeiter, der seinen Job verliert, arbeitslos wird und dann in einer anderen Branche wieder anfängt, durchschnittlich 27 Prozent weniger verdient als in seiner alten Tätigkeit. 

Außerdem könnte die Jobsicherheit geringer sein als zuvor, was ebenfalls mit Kosten verbunden sein könnte. Insgesamt entstünden so Wohlfahrtsverluste von etwa 155.000 Euro. Luke Haywood hat die Höhe der Schäden überrascht und auch die Ursache: „Es ist nicht die Arbeitslosigkeit, die Kosten in die Höhe treibt. Es ist die Tatsache, dass die Menschen einen Job finden, der weniger gut bezahlt ist und weniger sicher.“

Zusätzliches Angebot für Jüngere

Die Politik hat bereits eine Lösung dafür. Das sogenannte Anpassungsgeld, das schon beim Ende des Steinkohlebergbaus den Strukturwandel abfedern sollte. Es steht Arbeitern zu, die älter sind als 58 Jahre und kommt einer Frühverrentung nahe. „Die Bedingungen des Anpassungsgelds sind großzügig, aber den jüngeren Arbeitnehmer in der Kohlebranche hilft es nicht“, sagt Haywood. Gerade wenn eine Beschleunigung des Kohleausstiegs anstünde, seien noch mehr jüngere Menschen betroffen. Die Forscher halten deshalb ein zusätzliches Angebot für sinnvoll. 

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Ihr Vorschlag: Verliert ein Kohlearbeiter seinen Job und findet eine schlechter bezahlte neue Stelle, übernimmt der Staat für fünf Jahre die Lohndifferenz. Diese Entgeltsicherung würde die Verluste, die ein einzelner Arbeiter erleidet, um 90 Prozent reduzieren. Außerdem würden mehr Fachkräfte im Arbeitsmarkt bleiben, statt sie aufs Abstellgleis zu schicken. Ob sie damit bei der Ampelkoalition, die den Kohleausstieg vorbereitet, noch auf offene Ohren stoßen werden, kann Luke Haywood nicht einschätzen.

Für die Zukunft könnte das Konzept aber noch nützlich sein. Denn eines sei sicher, so Haywood: „Es wird auch noch weitere Industriezweige geben, die vom Strukturwandel betroffen werden.“

Mehr zum Thema: Ende 2022 werden die letzten deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet. Auf Deutschland kommt ein energiepolitischer Stresstest zu.

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