Auf die Idee zu diesem Text bin ich vergangene Woche gekommen. Da war ich mit einem Freund spazieren (was soll man sonst machen?), da flatterte plötzlich ein ziemlich großer Vogelschwarm über uns hinweg. Sofort hatte mein Kumpel das Smartphone in den Himmel gereckt, riss es nach wenigen Augenblicken wieder runter und überprüfte seine Beute auf dem Bildschirm. Dann hielt er mir das Video wortlos stolz grinsend vor die Nase.
Ich sah ein Video von rund drei Sekunden, in dem ein Vogelschwarm links aus dem Bild schießt. Ich sagte anerkennend: „Ja, ich erinnere mich, das sind genau die Vögel, die gerade in echt über uns rüber geflogen sind.“
Ich stehe da übrigens nicht drüber. Im Homeoffice bahnt sich ein schöner Sonnenuntergang an? Foto. Verdammt, nach zwei Minuten sieht er noch röter aus. Noch ein Foto. Und statt an den Horizont zu blicken, vergleiche ich die beiden Bilder, mache noch ein drittes und überlege mir, in welcher Chatgruppe ich mit dem dritten Foto auf den Putz hauen könnte: traumhafter Sonnenuntergang. Unterschrift: „Gruß aus dem Homeoffice“. Haken dran. Diesen Moment nimmt mir keiner mehr. Ich habe ihn ja jetzt digital archiviert. Zu dem Preis, dass ich irgendwie gar nicht Teil des Moments war, als er war.
Erkennen Sie sich wieder? Eigentlich müsste ich es besser wissen. Vor über zehn Jahren habe ich zum ersten Mal im Tauchurlaub eine Kamera mit runter genommen. Und das endete mit einem handfesten Streit zwanzig Meter unter der Oberfläche des Roten Meeres. Es stimmt wirklich! Über mir glitzerte die Sonne Ägyptens durch Tonnen klarsten Wassers. Neben mit wankzen die leuchtend bunten Korallen im Strom. Und ich war stocksauer. Das kam so: Mein Tauchbuddy und ich (man taucht ja immer zu zweit, weil das sicherer ist und es macht eigentlich auch mehr Spaß) hatten uns für diesen Tauchgang eine Fotokamera gemietet und haben dann unten prompt eine Riesenmuräne entdeckt, die dort ihren drachenartigen Kopf mit ihrem nach Sauerstoff schnappenden Maul aus ihrem Höhlenversteck reckte. Der Ort für das perfekte Angeberfoto. Mein Buddy wies mich mit Händen und Flossen an, mich zu drehen, damit er knipsen könne. Ich kam dem nach. Hinten neben mir: die Riesenmuräne. Er hielt die Kamera vor sich. Ich zeigte mit Zeigefinger und Daumen ein O für ok/grandios/geil (lächeln funktioniert mit dem Atemautomaten im Mund nicht, denn dann schießt Salzwasser rein).
Mein Buddy bedeutete mit schiebenden Handbewegungen, ich solle näher an die Muräne ran. Ich dachte an das unentwegt schnappende Ungeheuer und schüttelte den Kopf. Mein Buddy wiederholte die Schiebegeste. Ich stellte mir vor, wie mich das Vieh hinterrücks in die nackten Waden biss, und schüttelte wieder den Kopf. Schiebegeste. Ich hörte mich selber rufen „NEIN!“, was unter Wasser allerdings eher so klingt wie „NNN!“ Und der andere hört es eh nicht.
Wieder: vehemente Schiebegeste. Ich zeigte ihm einen Vogel. Er reckte kurz die Kamera und paddelte dann beleidigt vorweg. Mein Puls: 180 circa. Knackpunkt: Bei schneller Atmung leert sich die Pressluftflasche schneller. Der Tauchgang war flott vorbei. Gut so, die Stimmung unter Wasser war eh ruiniert.
An der Wasseroberfläche zeigte mein Buddy mir das Bild: ich blaustichig vor einem schwarzen Felsen. Dank der Tauchmontur nicht als Marcus zu erkennen. Und die Muräne ließ sich selbst für jemanden, der wusste, wo sie gewesen war, auf dem Foto nicht wiederfinden. Das war das letzte Mal, dass ich einen Fotoapparat mit auf Tauchgang genommen habe. Das Gefühl, in diesem Moment Teil der Unterwasserwelt zu sein, Gast bei Fischen, Garnelen und Seesternen, diese Demut und Dankbarkeit, dabei sein zu dürfen, war wie weggewischt durch den Arbeitsauftrag: gute Fotos abliefern.