Verkehrte (Finanz)welt
Quelle: imago images

„Bond Vigilantes“: Die Anleihewächter sind zurück

Unter „Bond Vigilanten“ werden Investoren verstanden, die durch den Verkauf von Anleihen die Zinssätze nach oben treiben. Dies dürfte für die Staatshaushalte in Deutschland und weiterer Länder sowie für den privaten Sektor erhebliche Konsequenzen haben. Eine Kolumne.

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In den vergangenen Jahren bereiteten die Staatsanleihen-Märkte den Emittenten kaum Schwierigkeiten. In der Regel konnten Emissionen zu Tiefstzinsen in beinahe jedem Umfang platziert werden. Mit der Rückkehr der Inflation und des Zinses hat sich das geändert. Um zu verstehen, weshalb dieses neue Umfeld die sogenannten „Bond Vigilantes“ auf den Plan ruft, lohnt sich ein Blick zurück in die 1990er-Jahre.

Im Februar 1994 kam es nach einer Zinserhöhung der US-Notenbank (Fed) zu einem weltweiten Ausverkauf von Anleihen. Die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen stiegen von Ende 1993 bis Ende 1994 in den USA und Deutschland um 2 Prozentpunkte, in Italien sogar um 3,8 Prozentpunkte. Mit einem Anstieg der Anleihezinsen um weit mehr als einem Drittel verteuerten sich staatliche Zinsausgaben erheblich.

Darüber erschrocken ergriff die US-Regierung unter Bill Clinton damals fiskalische Sparmaßnahmen. Clintons politischer Berater James Carville kommentierte: „Früher dachte ich, dass ich, wenn es eine Reinkarnation gäbe, als Präsident oder Papst wiederkommen wolle. Oder als Baseballspieler mit einer Trefferquote von 400. Aber jetzt würde ich gerne als Anleihenmarkt zurückkommen. Man kann jeden einschüchtern“.

Als „Bond Vigilantes“ können nun diejenigen Anleihen-Investoren verstanden werden, die als Gruppe so viel Einfluss ausüben, dass sie den Staat zum Sparen zwingen. Den Begriff hat der US-Ökonom Ed Yardeni bereits in den 1980er-Jahren geprägt. Grob lässt er sich mit „Anleihewächter“ übersetzen: Durch Verkäufe der Anleihen von Staaten, deren Fiskalpolitik sie finanziell für unsolide halten, treiben sie die Zinsen nach oben. Dies setzt den Staat unter Handlungsdruck.

Aktivität nimmt zu

Mit der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken in den frühen 2000er-Jahren und den danach folgenden großvolumigen Anleihekäufen insbesondere in den Pandemiejahren verschwanden die „Bond Vigilantes“. Gegen die Zentralbanken konnten sie nichts ausrichten.

von Bert Losse, Malte Fischer, Silke Wettach

Doch seit der Zinswende Anfang 2022 sind sie wieder in Lauerstellung. Und ihre Aktivität nimmt zu – ein sich wiederholendes Muster, wie eine historische Betrachtung der gegenläufigen Bewegung von Staatsverschuldung und Zinsen nahelegt: So stieg in den USA die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen von 2,25 Prozent im Jahr 1946 auf 13,75 Prozent im Jahr 1981. In diesem Zeitraum fiel die Staatsschuldenquote von 122 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 31 Prozent. In der Folgezeit fiel der Zins wieder auf rund ein Prozent im Jahr 2020 und die Staatsschuldenquote kletterte zurück auf 123 Prozent.

Und heute? Von ihren Tiefpunkten in den Jahren 2019 und 2020 stiegen die zehnjährigen Renditen deutscher Bundesanleihen bis Ende September letzten Jahres um 3,6 Prozentpunkte. In den USA und in Italien kletterten die Staatsanleihen um 3,8 beziehungsweise 4,2 Prozentpunkte. Absolut gesehen sind diese Anstiege deutlich heftiger als die eingangs geschilderten in den Jahren 1993 und 1994. Prozentual betrachtet gehen sie durch die Decke: Sechs bis acht hundert Prozent in den USA und Italien. In Deutschland aufgrund der negativen Ausgangsrendite jenseits mathematischer Berechenbarkeit!

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von Heike Schwerdtfeger

Politische Konsequenzen

Die „Bond Vigilantes“ erzwangen bereits ein politisches Opfer. Als die damalige britische Premierministerin Liz Truss im September 2022 Steuersenkungen ohne Gegenfinanzierung ankündigte, schossen in Erwartung steigender Staatsschulden die Renditen britischer Staatsanleihen in die Höhe. Truss musste zurücktreten. Ihre Amtszeit war die kürzeste in der Geschichte des Vereinigten Königreichs. Seither schlagen die „Anleihewächter“ immer wieder zu, zuletzt in den sechs Wochen vor dem 6. Oktober 2023. In dieser Zeit stieg die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen um 0,7 Prozentpunkte.

Weitere Anschläge könnten folgen, ihre Konsequenzen dürften schmerzhaft sein. Beispiel Deutschland: Würden die Zinsen zehnjähriger Staatsanleihen auf dem Niveau der ersten drei Wochen des angelaufenen Jahres 2024 verharren (also die gesamte Staatsschuld damit verzinst werden), dann würde sich die Zinslast der öffentlichen Hand in Deutschland verdoppeln. In Italien würden sie um rund 50 Prozent und in den USA um knapp zehn Prozent steigen. Noch schlimmer wäre es, wenn die Anleihenrenditen weiter steigen auf das durchschnittliche Niveau der ersten Hälfte der 1990er-Jahre. Die Zinszahlungen würden dann 27 Prozent der italienischen und 28 Prozent der gegenwärtigen US-amerikanischen Staatsausgaben ausmachen. Dies wären historische Rekordwerte.

Ausblick

Da hoch verschuldete öffentliche und private Schuldner bei solch hohen Zinsniveaus nicht überleben könnten, werden die Zentralbanken den „Bond Vigilantes“ früher oder später den Kampf ansagen. Mit der viel beschworenen Inflationsbekämpfung ist es dann vorbei. Die US-Notenbank machte am 13. Dezember 2023 den Anfang und signalisierte Zinssenkungen im Verlauf von 2024. Die Ankündigung der Zinswende kam, obwohl die Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt robust war und die Kerninflation bei vier Prozent verharrte. Renten- und Aktienpreise stiegen und die Zinserwartungen sackten ab.

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Ob jedoch die Wette der Fed auf eine fallende Inflation aufgeht, ist fraglich. Bleibt die Inflation hartnäckig über dem Ziel von zwei Prozent, dann muss die Zentralbank die avisierten Zinssenkungen zurücknehmen. Drückt sie sich darum, haben die „Bond Vigilantes“ gleich zwei Gründe, erneut zuzuschlagen: Zum ersten die aus dem Ruder laufende Staatsverschuldung und zum zweiten der Glaubwürdigkeitsverlust der Fed.

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Die Kolumne „Verkehrte Finanzwelt“ entsteht in Zusammenarbeit mit der CFA Society Germany.

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