Hier funktioniert es schon Was Deutschland bei der Mobilität von China lernen kann

Die Metro in Shanghai im Osten Chinas. Quelle: imago images

Flugtaxis, Autobahnen im Untergrund und Transportkapseln per Hyperloop? Alles Unsinn. Ein verlässlicher Nahverkehr und anständige Vernetzung würden doch schon reichen. China macht längst vor, wie.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Li Songwei zieht seine Hand zurück. „Konzentriere dich“, herrscht in eine computergenerierte Stimme aus den Boxen vor ihm an. Der Taxifahrer hatte gerade noch sein Handy in der Hand. Jetzt hält er damit wieder sein Lenkrad fest. „Die Kamera überwacht jede meiner Bewegungen“, sagt Li und nickt in Richtung des Armaturenbretts. Auf der linken Seite steht ein viereckiger Kasten, der wie eine Radarfalle aussieht. Die Kamera ist direkt auf Li gerichtet, der gespielt herzhaft gähnt. „Du bist müde, bitte sei vorsichtig“, fordert ihn die Stimme prompt auf.

Fahrer Li nimmt an einem Pilotprojekt der städtischen Verkehrsbehörde im südchinesischen Shenzhen teil. Sauberer, zuverlässiger und sicherer sollen die Taxis durch die Dauerüberwachung werden. Steigt Li ins Fahrzeug, ploppt auf einem Bildschirm in der Mittelkonsole sein Passbild auf. Die Kamera gleicht sein Gesicht mit dem Foto ab, bevor er seine Schicht beginnt. Dazu flimmert auf dem Bildschirm ein digitales Taxameter und eine integrierte Freisprechanlage. Der Innenraum ist komplett mit Kameras ausgestattet. Gibt es einen Konflikt mit einem Kunden, können die Aufnahmen ausgewertet werden.

Auch sonst hat die städtische Behörde den Taxifahrer immer im Blick. Li, schmächtig mit blauem Hemd und Stoffhose, sagt nicht, was er von dem neuen System hält, das nun jede seiner Routen überwacht und Tempoverstöße oder Konflikte mit Kunden direkt registriert. Offiziell vertritt er die Haltung seines Arbeitgebers: „Die Firma weiß alles und deshalb ist es gut, dass mich die Software an mein Fehlverhalten erinnert“, sagt er. Und lächelt freundlich in die Kamera vor ihm.

Die neuen Taxis in Shenzhen sind nur eins von vielen Pilotprojekten in China, mit denen das Land die Mobilität revolutionieren und den Verkehr sicherer machen will. Viel davon geht, weil die Datenschutzbestimmungen lockerer sind als in der EU, aber das ist nicht der einzige Grund. Junge Gründer haben in wenigen Jahren die chinesische Techbranche mit ihren Ideen auf den Kopf gestellt. Viele davon haben sich die Mobilitätsbranche vorgenommen und Start-ups mit Milliardenbewertungen aus dem Boden gestampft. Peking hat den Ausbau der Infrastruktur zu einem seiner Kernthemen gemacht. In den vergangenen Jahren hat die Regierung gewaltige Summen in den Ausbau des Schienen- und Straßennetzes sowie der U-Bahnsysteme investiert. Das hat das hohe wirtschaftliche Wachstum und die Anbindung ländlicher Regionen an die östlichen Metropolen des Landes erst möglich gemacht.

Fünf neue Mobilitätskonzepte, die in China schon etabliert sind und von denen Deutschland lernen kann:

Alles in einer App: Reisen mit dem Messenger WeChat
WeChat ist mit fast einer Milliarde Nutzern der wichtigste Messenger in China. Die App hat sich vom reinen Kurznachrichtendienst zu einem eigenen Ökosystem entwickelt. Es kann gechattet und telefoniert werden, doch die Nutzer können auch Kinokarten reservieren, Hotels buchen oder städtische Rechnungen für Strom und Wasser bezahlen. Unter der Rubrik „Geldbeutel“ verbirgt sich nicht nur das mobile Zahlungssystem, das inzwischen in fast allen Geschäften akzeptiert wird, sondern auch unzählige Mini-Anwendungen.

In der App WeChat können User zum Beispiel ein Fahrrad des Anbieters Mobike leihen. Quelle: Screenshot

Über WeChat können Nutzer sich etwa nicht nur ein Taxi oder ein Didi - das chinesische Uber - rufen. Per WeChat kann man auch eines der rund zehn Millionen Leihfahrräder im Land mieten, etwa vom großen Anbieter Mobike. Die Räder werden per Navi geortet und können ohne Dock-Stationen abgestellt werden, so dass viele Chinesen sie für die letzten Meter von der U-Bahn- oder Bushaltestelle nutzen. Bezahlt wird jede Dienstleistung automatisch durch den im Messenger integrierten mobilen Bezahldienst. Inzwischen kann die App sogar zum Kaufen von Metro- und Bustickets verwendet werden.

Messenger wie WeChat und Meituan mit ihrem umfassenden Ökosystem sind auch eine Folge der Generation mobile first. Handys sind in China Dauerbegleiter. Die meisten Chinesen haben nie einen Laptop besessen, sondern kennen das Internet nur durch die kleinen Bildschirme ihrer Mobiltelefone. Deshalb brauche sie simple digitale Lösungen für ihre tägliche Mobilität.

Am Stau vorbei: Das chinesische U-Bahn- und Schnellzugsystem
Kein Land der Welt hat sein U-Bahnsystem schneller ausgebaut als China. Vorbild für viele Städte im Land ist die Shanghaier Metro, deren erste Linie erst 1993 eröffnet wurde. Das Streckensystem ist innerhalb weniger Jahre auf heute schon 620 Kilometer angewachsen. Zum Vergleich: Das Berliner U-Bahnnetz, bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in Betrieb, ist 146 Kilometer lang. Bis 2020 will Shanghai noch einmal 200 Kilometer an U-Bahnstrecke hinzufügen. An fünf neuen Linien wird aktuell in der Stadt gebaut. 9,6 Meter pro Tag schafft ein Bohrer der chinesischen Metrobauer, der sich unter der Großstadt mit ihren gewaltigen Hochhäusern hindurch graben muss.

Eine Passagierin zeigt den QR-Code für die Bezahlung ihrer Fahrkarte für die Metro in Shanghai. Quelle: imago images

Shanghai zählt rund 11 Millionen Fahrten pro Tag in der U-Bahn. Pro Fahrt zahlen die Fahrgäste meist zwischen drei und fünf Kuai, umgerechnet 40 bis 70 Cent. Über die Hälfte der Bewohner entscheiden sich für die U-Bahn anstelle des eigenen Autos oder des Busses. Laut offiziellen Angaben hat die U-Bahn eine Pünktlichkeitsrate von 99,82 Prozent. In der Rush-Hour fahren die Bahnen fast im Minutentakt. Bezahlt werden kann nicht nur mit Bargeld und Bankkarten, sondern auch per App. Wer online bezahlt, bekommt einen QR-Code – also einen viereckigen Strichcode – aufs Handy geschickt, der am Eingang der Metro wie das Ticket oder die Metrokarte gescannt werden kann.
In über 40 Städten im Land wird im Moment an neuen U-Bahnlinien gegraben. In mehr als der Hälfte der Städte handelt es sich um die erste Linie. 264 Milliarden Euro stellt die chinesische Zentralregierung für die Bauten zur Verfügung. Dazu kommen lokale Geldtöpfe. Gebaut wird nur in Städten mit einer Einwohnerzahl von mehr als drei Millionen Menschen.

Das chinesische Hochgeschwindigkeitsnetz für Züge ist mit 20.000 Kilometern inzwischen das größte der Welt. Bis 2030 soll es um weitere 10.000 Kilometer wachsen. Die 1350 Kilometer lange Zugstrecke von Peking nach Shanghai schafft der chinesische Schnellzug in viereinhalb Stunden.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%