Kaufreiz statt Nerv-Attacke Wie wir in Zukunft einkaufen werden

Einkaufen nach Amazon. Quelle: Fotolia

Kameras über der Käsetheke, Lieferdrohnen und Bezahlen per Gesichtserkennung: Getrieben durch Amazon erfindet sich der Handel neu. Wie der Supermarkt der Zukunft aussehen könnte.

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Seattle, South Lake Union District. Noch vor ein paar Jahren stand das Viertel nördlich der Innenstadt für Lagerhallen und Stripclubs. Heute ragen leuchtende Hochhäuser in den Himmel. Hier hat Jeff Bezos sein Hauptquartier. Der Mann, der Amazon gegründet und seither die Art, wie Menschen einkaufen, verändert hat wie niemand zuvor. Und Bezos ist noch nicht fertig. Davon zeugt das Ladenlokal ganz vorn in seiner Firmenzentrale in Seattle, es ist weniger als 100 Quadratmeter groß. Hinter einer elektronischen Schranke, bewacht von einer resoluten Frau in dunkler Uniform, befindet sich der Prototyp des Supermarkts der Zukunft: Amazon Go. Noch dürfen ihn nur Amazons Mitarbeiter betreten.

Aber von der Straße aus lassen sich große Kühlregale erkennen, dicht bepackt mit frisch zubereiteten Sandwiches und Salaten.

An diesem Morgen drängeln sich einige Leute davor. Sie öffnen eine App auf ihrem Smartphone, ziehen die gewünschte Ware aus dem Regal, abgerechnet wird automatisch. Die Decke des Ladens, sagt ein Amazon-Mitarbeiter, sei mit Kameras zugepflastert. Perfekt arbeitet das System noch nicht. „Ich habe schon mehrfach versucht, das System auszutricksen, Waren wieder zurückgelegt und andere, teurere herausgenommen, es hat stets geklappt.“ Amazons Supermarkt kommt nahezu ohne Personal aus: keine Kassierer, keine Schlangen – aber eben auch niemand, der aufpasst.

Die wichtigsten Käufe von Amazon

Zum Kauf anregen, statt ablenken

Amazons Experiment ist nur eines von vielen. „Der gesamte Handel erfindet sich momentan neu“, sagt Daniel Kellmereit, US-Chef von Liganova. Das Stuttgarter Unternehmen berät Marken wie Adidas, Mercedes oder Nespresso bei der Präsentation ihrer Produkte, beim Bau von Läden und der Suche nach dem besten Standort. Von San Francisco aus bearbeitet der gebürtige Deutsche Unternehmen weltweit. Und begutachtet dazu die neuesten Technologien: virtuelle und erweiterte Realitäten, Bodyscanner und Avatare als Berater, Sensoren und Lieferdrohnen. „Die ganze Branche testet gerade, was den Kunden am besten zum Kauf anregt, ohne ihn mit zu viel Technologie abzulenken oder gar zu nerven“, sagt Kellmereit.

Dies ist der schwierige Spagat: Einerseits können Händler mit ausgeklügelten Maschinen Abläufe optimieren und ihre Kundschaft besser bedienen. Andererseits dürfen sie darüber nicht das Versprechen vergessen, das sie seit jeher geben: dass der Kunde König sei. Menschen wollen es beim Einkaufen nicht nur bequem und billig, sondern auch umworben werden. Kellmereit glaubt deshalb, dass der Erfolg vor allem in der geschickten Verknüpfen der Präsentation der Waren vor Ort mit deren Bestellung und Auslieferung liegt.

Totale Überwachung bei AmazonGo

„Die Reise zum Einkauf beginnt heute bereits im Wohnzimmer“, sagt Gerrit Kahl. In seinem Labor im saarländischen St. Wendel lässt er sich auf ein schwarzes Sofa sinken. Kahl leitet das „Innovative Retail Lab“, in dem der deutsche Handelskonzern Globus gemeinsam mit Forschern des Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) und anderen Händlern und Wissenschaftlern untersucht, wie gut Maschinen und Menschen beim Einkaufen harmonieren.

Vor Kahl steht ein flacher schwarzer Tisch, auf den er eine Dose Pepsi stellt. Neben der Dose erscheinen bunte Sechsecke: „Einkaufsliste“, steht auf der Fläche mit dem blauen Rand, „Bestellen“ auf der mit grünem und „Info“ auf der mit orangenem Rand. Der glatt polierte Tisch ist eigentlich ein Tablet. Und das, so sagt Kahl, erfasst die verschiedenen Produkte. Tippt er auf das orange gefasste Feld, zeigt sich, dass die Dose 45 Cent kostet – und neben Wasser, Kohlensäure und Koffein diverse Farbstoffe enthält. Tippt er auf das blau gefasste Feld, landet die Dose Pepsi auf seiner Einkaufsliste.

Die größten Lebensmittelhersteller der Welt

Hier, zwischen Schrankwand, Sofa und smartem Tisch, versuchen Kahl und seine Kollegen auszuloten, wann Händler den ersten Kontakt zum Kunden knüpfen können, wie sie dessen Bedürfnisse besser verstehen und ihn besser bedienen können. Die Hoffnung hinter dem vernetzten Wohnzimmertisch: Wer seine Cola-Dose, seinen Joghurtbecher oder die Nudelpackung dort abstellt, dem könnte der Händler Rezeptvorschläge machen – oder mit einer Art von digitalem Haushaltsbuch helfen, weniger zu verschwenden und das eigene Budget im Griff zu behalten. Der Händler würde dann zum Dienstleister. Und müsste sich nicht nur mit immer niedrigeren Preisen gegen die Konkurrenz behaupten.

Auf Effizienz getrimmt

Kahl betritt nun den nachgebauten Supermarkt, in seinem Labor nur ein paar Schritte vom nachgebauten Wohnzimmer entfernt. Seine Einkaufsliste ist auf seinem Smartphone gespeichert. Immer, wenn er etwas in den Korb legt, wird das Smartphone dies registrieren – und selbstständig von der Liste streichen. „Beim Müsli funktioniert das schon gut, bei den Äpfeln zugegebenermaßen noch nicht“, sagt Kahl. Es ist eine Welt, die wie die von Amazon Go in Seattle durch Bequemlichkeit besticht – und all jene begeistert, für die der Einkauf eine nervige Angelegenheit ist. Denjenigen aber, für die der Besuch im Supermarkt immer auch bedeutet, dass man jemanden um Rat fragen kann, vielleicht auch einen Plausch hält, dürfte solch eine Welt eher Angst machen.

Kahl kennt diese Sorgen – und er glaubt, dass es letztlich an jedem Händler liegt, wie er die Technologien einsetzt.

Auch Amazon-Chef Jeff Bezos probiert mehrere Modelle aus. Nur ein paar Straßenzüge von Amazon Go entfernt, testet der Konzern seit Ende Mai den Einkauf ganz ohne Laden. Bei Amazon Fresh Pickup holen die Kunden ihre Lebensmittel selbst ab, die sie zuvor online geordert haben. 15 Minuten Vorlaufzeit reichen. Die an einem Parkplatz gelegene Station wirkt wie eine Mischung aus Tankstelle und Starbucks. An den Abholinseln vor den Gebäuden stehen statt Zapfsäulen Amazon-Mitarbeiter in grünen Kittelschürzen, neben sich Papptüten voller Bestellungen. Alle paar Minuten fahren neue Kunden vor und lassen sich die Tüten in den Kofferraum hieven. Alles ist hier auf Effizienz ausgelegt, zum Stöbern und Bummeln bleibt keine Zeit.

Walmarts selbstfahrender Einkaufswagen

Dabei hat Amazon auch dies im Angebot: Im Nordosten Seattles, direkt gegenüber des Campus der Universität von Washington, liegt eines dieser typischen amerikanischen Einkaufszentren, gestaltet wie eine kleine Innenstadt, mit Dufttempeln von Sephora, Boutiquen von Victoria’s Secret und einem Apple Store. Am südlichen Eingang befindet sich eine Buchhandlung. Große Schaufenster geben den Blick frei auf Bücherregale und bequeme Lesesessel, an der Ziegeloptik-Fassade prangt das Logo von Amazon Books.

Nur das im Regal, was Kunden gefällt

Es ist eine von derzeit zwölf US-Buchhandlungen, in denen der im Internet groß gewordene Händler Amazon Erfahrungen im stationären Handel sammelt. Auf den ersten Blick wirkt das Geschäft wie ein typischer Buchladen. Doch das täuscht. Statt 100.000 Titel wie bei einem üblichen Buchhändler, umfasst das Sortiment nur 5000 Titel, die besonders gute Bewertungen bekommen haben – und zwar genau von den Menschen, die in der Gegend rund um den Laden leben. Amazon weiß dank der gezielten Auswertung der Onlinebestellungen seiner Kunden, was die Menschen in Seattle gerne lesen – und vor allem: kaufen.

Auch Preise sucht man hier vergebens. Die erscheinen erst nach dem Scan des jeweiligen Barcodes via Smartphone oder an einem der Info-Kioske im Geschäft. Und sie wechseln, je nach Nachfrage. In Amerika gibt es das in Deutschland übliche Prinzip der Buchpreisbindung nicht. Stattdessen erhalten Abonnenten von Amazons Lieferservice Prime einen Rabatt.

Amazon Books ist kein Geschäft, sondern ein Showroom, der wiederum zum Stöbern in Amazons Digitalshop ermuntern soll. Und er könnte Vorbild für Amazons Expansion im stationären Lebensmittelhandel sein: Im Juni übernahm der Konzern für 13,4 Milliarden Dollar die Feinkostkette Whole Foods und sicherte sich damit auf einen Schlag 474 Supermärkte in guten Lagen. Marktbeobachter erwarten, dass Bezos, genau wie seine Buchhandlungen, die jeweiligen Whole-Foods-Märkte als Köder für seinen Onlinehandel nutzen wird. Die Geschäfte werden mit einem speziell auf die lokale Klientel zugeschnittenen Sortiment ausgestattet – alles darüber hinaus wird dann nachgeliefert.

Kämpferische Konkurrenz

Amazons Konkurrenten geben sich kämpferisch: „Wir werden mit Technologie konkurrieren, aber mit unseren Mitarbeitern gewinnen“, sagt Doug McMillon. Der Walmart-Chef leitet den größten Handelskonzern weltweit, ein Gigant mit mehr als 2,3 Millionen Mitarbeitern und 11.500 Filialen weltweit. Doch auch er kaufte kürzlich technologisches Knowhow dazu – den Onlinehändler Jet.com und dessen ebenso findigen wie unerschrockenen Schöpfer Marc Lore. Er ist einer der wenigen, dem Branchenbeobachter zutrauen, es mit Amazon-Gründer Bezos aufnehmen zu können.

Für Walmart testet Lore nun einen neuartigen Zustellservice im Silicon Valley: Kurierfahrer bringen Lebensmittel zum Kunden – und zwar auch dann, wenn der nicht zu Hause ist. Sie öffnen mit einem persönlichen Code die Tür und stellen die Waren auf dem Küchentisch oder im Kühlschrank ab. Eine Kamera zeichnet alles auf.

Bei Walmart ist das Projekt umstritten, weil es den eigenen Märkten die Kunden abwirbt. Doch Lore hat sich freie Hand für Experimente einräumen lassen.

So lange unklar ist, was sich bei welchen Kunden durchsetzt, ist eben alles ein großes Experiment. Auch bei Gerrit Kahl im Labor in St. Wendel. Hinter dem geschwungenen Glas der Theke seines nachgebauten Supermarkts liegen auf Bastmatten Würste, Schinken und Speck, links daneben verschiedene Käsesorten. Darüber hängt eine Kinect, die die Umgebung dreidimensional erfasst. Das Gerät wurde eigentlich von Microsoft für Computerspiele entwickelt. Hier aber nehmen die Kameraaugen die Bewegungen des Kunden auf. Dessen Finger wird so zu einer Art Zeigestock. Fragt der Verkäufer, welcher Käse es sein soll, muss der Kunde nicht mehr vage entgegnen: „Von dem da“.

Stattdessen leuchtet auf dem Bildschirm der Kasse, sichtbar für Kunde wie für Verkäufer: „Comté“ oder „Gouda“.

Smartphone sortiert Unverträgliches aus

Etwas weiter weg steht das Müsli. Kahl nimmt ein Smartphone und hält es davor. Auf dem Bildschirm sind nun die gleichen Packungen wie im Regal zu sehen: links das Schoko-Müsli, daneben Schoko-Banane, dann Nuss und Früchte. Doch das Smartphone zeigt mehr, als mit dem bloßen Auge im Regal zu sehen ist. In einer App hat Kahl abgespeichert, welche Allergien er als Kunde haben könnte: Haselnüsse verträgt er gar nicht. Und so sortiert sein Smartphone alle ungenießbaren Müslis aus.
Bevor solch eine Einkaufshilfe aus dem Labor es ins wahre Leben schafft, gebe es allerdings noch ein paar Hürden, sagt Kahl. Denn die Hersteller müssen die Allergene so auszeichnen, dass das Smartphone sie erkennt.

Im nachgebauten Supermarkt stehen nur acht Müslipackungen im Regal, die konnten Kahl und seine Kollegen problemlos katalogisieren. In einem normalen Supermarkt gibt es mehr Sorten – und mit jeder verkauften Packung rückt eine neue im Regal nach vorne. „Wer steht dafür gerade, dass die Daten richtig sind?“, fragt Kahl. „Gerade bei Allergien ist das äußerst heikel. Solche Sachen müssen geklärt werden.“

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Selbst Amazon muss noch viele technische Schwächen ausbessern. Die Wettbewerber frotzeln bereits, der Supermarkt Amazon Go sei nicht mehr als ein Potemkinsches Dorf. Angeblich funktioniert die Abrechnungstechnologie nicht richtig. Wohl auch deshalb ist der Laden nicht wie geplant für eine breite Kundschaft geöffnet.

Vielleicht aber entscheidet sich Bezos auch noch für ein ganz anderes Konzept. Experimente, davon ist der Amazon-Gründer überzeugt, sind allemal besser als Stillstand.

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