Flüchtlinge Darum fliehen wieder mehr Menschen aus der Türkei nach Griechenland

Athen stellt steigende Flüchtlingszahlen aus der Türkei fest und beschuldigt Ankara. Dabei könnte es auch an der eigenen Flüchtlingspolitik liegen.

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Das Meer war rau am Ostermontag vor der griechischen Ägäisinsel Samos. Das völlig überladene Schlauchboot hätte es aus eigener Kraft wohl kaum bis zur rettenden Küste geschafft.

Ein Schiff der EU-Grenzschutzagentur Frontex, das nördlich von Samos auf Patrouille war, nahm das Boot in Schlepp und brachte es sicher an Land. An Bord waren 58 Menschen.

Allein zwischen Karfreitag und Ostermontag kamen auf drei ostägäischen Inseln mehr als 350 Menschen an. Insgesamt steigen Flüchtlingszahlen in Griechenland wieder. Fast 2000 waren es im März, 4300 im ersten Quartal – ein Anstieg von 33 Prozent gegenüber dem Vorjahr, wie der griechische Migrationsminister Dimitris Vitsas vorrechnet.

Die Griechen befürchten, dass der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan jetzt die Schleusen öffnet. Der Grund: Die wachsenden Spannungen der griechisch-türkischen Regierung. So sitzen seit sechs Wochen zwei griechische Grenzsoldaten im türkischen Hochsicherheitsgefängnis Edirne, weil sie im dichten Nebel bei einer Patrouille auf türkisches Staatsgebiet geraten waren – versehentlich, wie sie beteuern.

Die Türkei droht ihnen eine Anklage wegen „Spionage“. Während sich Athen bisher ohne Erfolg um die Freilassung der beiden Männer bemüht, fordert Ankara, ebenfalls vergeblich, die Auslieferung von acht türkischen Soldaten, die nach dem Militärputsch im Juli 2016 nach Griechenland geflohen waren und dort Asyl beantragt haben.

Erdogan wirft dem griechischen Premier Alexis Tsipras vor, er schütze „Terroristen“. Schon im März drohte Erdogan den Griechen damit, Flüchtlinge als Druckmittel einzusetzen: „Wenn wir die Grenzen öffnen, werdet Ihr kein Loch mehr finden, in dem ihr euch verkriechen könnt.“

Nun habe die Türkei die Kontrollen an ihrer Küste gelockert und die Schleuser lassen die Flüchtlinge gewähren, heißt es inoffiziell bei der griechischen Küstenwache.

Die türkische Seite dementiert das. Die türkische Küstenwache hat nach eigenen Angaben in den ersten drei Monaten dieses Jahres 4227 Migranten in der Ägäis aufgegriffen und zur türkischen Küste zurückgebracht – fast 2000 mehr als im Vorjahr. Diese Zahlen zeigen, dass der Druck tatsächlich wieder wächst.

Das Problem: Die Türkei beherbergt etwa 3,5 Millionen Flüchtlinge. Doch nur 280.000 von ihnen leben in organisierten Lagern an der syrischen Grenze, die anderen müssen sich selbst durchschlagen. Sie erhalten in der Türkei weder Asyl noch haben sie angesichts einer Arbeitslosenquote von zehn Prozent eine Aussicht auf ein gesichertes Einkommen.

Für die EU sprechen aus ihrer Sicht der Migranten die Aussicht auf Asyl, die Sozialleistungen, berufliche Chancen und das bessere wirtschaftliche Umfeld.

Der jetzt verzeichnete Anstieg die Flüchtlingszahlen könnte aber auch eine andere Ursache haben: die griechische Flüchtlingspolitik. Denn während die Türkei das im März 2016 mit der EU geschlossene Flüchtlingsabkommen bisher einhält, wie auch die Aufgriffe in der Ägäis zeigen, tut Griechenland das in einem entscheidenden Punkt nicht: Das Abkommen sieht vor, dass die Türkei alle illegal nach Griechenland kommenden Flüchtlinge und Migranten zurücknimmt. Im Gegenzug übernimmt die EU für jeden zurückgeschickten Migranten legal einen syrischen Flüchtling aus der Türkei.

Soweit die Theorie. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Seit dem Inkrafttreten des Abkommens kamen fast 70.000 Flüchtlinge aus der Türkei nach Griechenland. Dorthin zurückgeschickt wurden aber nur 1658.

Die meisten von ihnen gingen freiwillig. In den vergangenen Tagen sind die Rückführungen fast völlig zum Erliegen gekommen.

Auf den griechischen Inseln wurden zwischen dem 24. März und dem 2. April 1205 Neuankünfte gezählt. Aber nur vier Menschen wurden in die Türkei zurückgebracht. Aus Sicht der Migranten ist das Risiko, in die Türkei zurückgeschickt zu werden, also sehr klein.

Überfüllte Insellager

Stattdessen können sie hoffen, von den Inseln aufs griechische Festland umgesiedelt zu werden. Der Flüchtlingspakt sieht zwar vor, dass die Menschen so lange in den „Hotspots“ auf den Inseln bleiben müssen, bis endgültig über ihre Asylanträge entschieden ist. Aber die Verfahren ziehen sich über viele Monate oder sogar Jahre.

Entsprechend überfüllt sind die Insellager inzwischen. Auf Lesbos leben 5806 Menschen im Lager Moria, das nur für 3000 Personen ausgelegt ist. Auf Samos hausen 2817 Personen in einem Lager, dessen Kapazität lediglich für 648 reicht. Der Bau neuer oder die Erweiterung bestehender Lager scheitert bisher am Widerstand der Inselbewohner.

Die Enge wäre noch größer, hätten die griechischen Behörden nicht damit begonnen, in großem Stil Menschen von den Inseln aufs Festland umzusiedeln. Im vergangenen Jahr wurden so 27.000 Menschen zum Festland gebracht.

Nach Darstellung des Innenministeriums in Athen handelt es sich um besonders gefährdete Personen wie Kinder, Kranke und schwangere Frauen, die den Schutz der Genfer Konvention verdienen. Migrationsminister Vitsas kündigte jetzt ein neues Asylgesetz an, um die Verfahren auf den Inseln zu beschleunigen. Es soll Ende April verabschiedet werden. Dann könnte es auch mehr Rückführungen geben, heißt es im Ministerium.

Bis dahin wird den Behörden kaum etwas anderes übrig bleiben, als die Lager auf den Inseln durch Umsiedlungen aufs Festland zu entlasten. Internationale Hilfsorganisationen fordern das seit vielen Monaten. Fachleute fürchten aber, dass die jüngst wieder steigenden Flüchtlingszahlen auf diese Umsiedlungen zurückzuführen sind.

Sie könnten den in der Türkei wartenden Migranten einen zusätzlichen Anreiz bieten, die Überfahrt zu wagen. Denn wer es erst einmal von den Inseln aufs griechische Festland geschafft hat, kann nach den Bestimmungen des Flüchtlingsabkommens nicht mehr in die Türkei zurückgeschickt werden.

Vom Festland führen viele Wege weiter nach Westeuropa. Manche versuchen es über die Balkanroute, die trotz geschlossener Grenzen keineswegs hermetisch abgeriegelt ist. Ein weiterer Weg führt von den westgriechischen Häfen Patras und Igoumenitsa nach Italien. Einige versuchen per Flugzeug aus Griechenland in andere EU-Staaten zu gelangen. Am Ostersonntag nahm die Polizei am Flughafen der griechischen Insel Santorin zwölf aus Vietnam, Tibet und Afghanistan stammende Passagiere fest, die versuchten, mit gefälschten Pässen nach Italien und Spanien zu fliegen.

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