
Herr ElBaradei, der Arabische Frühling hat viele Hoffnungen geweckt – und wenig später für Ernüchterung gesorgt. Geht es den Menschen in Ihrem Heimatland Ägypten heute besser oder schlechter als vor der Protestwelle im Januar 2011?
Mohammed ElBaradei: Der Arabische Frühling hat an vielen Stellen gewirkt. Und tut es bis heute. Es sind keine Wunder passiert, aber natürlich geht es den Menschen besser als in den Jahrzehnten unter Ex-Präsident Husni Mubarak, einem Autokraten, der Menschenrechte mit Füßen getreten hat. Ich verstehe gleichwohl die Zweifel: Die Leute haben erwartet, dass sich die Dinge über Nacht ändern. Sie haben Sehnsucht danach, dass sich ihre Lage so schnell wie möglich grundlegend ändert. Aber das tut sie leider nicht. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass es Zeit braucht, um ein autoritäres System in eine Demokratie zu verwandeln.
Husni Mubarak - vom Präsidentenpalast in den Anklagekäfig
Husni Mubarak hat rund 30 Jahre lang über Ägypten geherrscht, dann zwangen ihn Massenproteste zum Rücktritt. Am 11. Februar 2011 flieht Mubarak nach Scharm el Scheich, das Militär übernimmt die Macht.
Der Ex-Präsident sitzt in Untersuchungshaft. Wegen einer Herzattacke wird er in eine Klinik gebracht.
Ein Untersuchungsbericht macht Mubarak für den Tod von 846 Menschen während der Unruhen mitverantwortlich.
Der Prozess beginnt. Mubarak wird im Krankenbett in den Gerichtssaal geschoben; er streitet alles ab.
Das Gericht verurteilt Husni Mubarak zu lebenslanger Haft. Seine Söhne Alaa und Gamal werden vom Vorwurf der Korruption freigesprochen. Vor dem Gericht kommt es zu Tumulten. Mubarak wird in die Intensivstation der Klinik des Gefängnisses Tora gebracht.
Ein Kassationsgericht entscheidet, dass der Prozess gegen Mubarak neu aufgerollt werden muss. Es gibt Beschwerden von Verteidigung und Staatsanwaltschaft statt. Mubarak bleibt in Haft.
Die Neuauflage des Prozesses endet kurz nach dem Beginn. Angesichts von Befangenheitsvorwürfen der Opferfamilien zieht sich der Richter Mustafa Hassan aus dem Verfahren zurück.
Der Prozess beginnt erneut.
Ein Berufungsgericht ordnet in einem Verfahren um Privathäuser der Mubarak-Familie, die angeblich mit staatlichen Mitteln errichtet wurden, die Freilassung des ehemaligen Staatschefs an. Er bleibt jedoch in Untersuchungshaft. Der Generalstaatsanwalt hatte kurz zuvor gegen ihn ein weiteres Verfahren wegen anderer Baumaßnahmen auf Staatskosten eröffnet.
Erwarten die Ägypter tatsächlich so viel? Mir scheint es, sie möchten lediglich eine Perspektive und einen Job. Und beides bekommen sie von den Eliten nicht – unabhängig davon, wer gerade an der Macht ist.
Es gibt viele Baustellen. Wir erschaffen gerade eine neue Kultur, ein neues Lebensumfeld. Dazu gehört, dass wir lernen müssen, wie eine Zivilgesellschaft funktioniert. Wir brauchen glaubwürdige, fähige Institutionen, starke Parteien und eine schlagkräftige Wirtschaft. Wir sind bereit, daran zu arbeiten. Die jungen Menschen, die bereit waren auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, sehen dank der Sozialen Netzwerke, dass die Welt anders sein kann und sie wissen jetzt, was Freiheit heißt und was soziale Gerechtigkeit ist. Sie sehnen sich nach Veränderung – aber sie brauchen Geduld.
Zum Hintergrund
ElBaradei ist ein ägyptischer Diplomat. Er war von 1997 bis zum November 2009 Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) und erhielt zusammen mit dieser im Jahr für den Kampf für Abrüstung im Jahr 2005 den Friedensnobelpreis. Vom 14. Juli 2013 bis zum 14. August 2013 war er Vizepräsident Ägyptens.
Das Campus Symposium ist eine internationale Wirtschaftskonferenz, die alle zwei Jahre von Studenten der Business and Information Technology School in Iserlohn veranstaltet wird. Das bekannte Wirtschaftstreffen fand am 4. und 5. September 2014 bereits zum achten Mal auf dem Campus Seilersee statt. In diesem Jahr dabei waren u.a. Ex-Bundespräsident Roman Herzog, Sir Bob Geldof und Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei.
Und Jobs.
Ägypten braucht Wirtschaftswachstum und neue Jobs, ja. Es kann nicht sein, dass ein Großteil der jungen Menschen ohne Arbeit ist. Das schafft große soziale Probleme. Das sind keine ägyptischen oder afrikanischen Probleme, Südeuropa steht vor dem gleichen Dilemma. Perspektivisch schaffen wir Jobs vor allem dann, wenn wir ein stabiles System haben. Und wenn alle Bürger die Chance auf gute Bildung haben.

Bildung braucht aber Zeit.
Man muss ja irgendwo anfangen. Der Westen, auch Deutschland, muss hier helfen. Bildung ist der Schlüssel zu allem. Nicht nur, um einen guten Job zu finden, sondern auch, um die Grundwerte einer Gesellschaft – die Unantastbarkeit des Lebens, die Gleichheit aller – zu verstehen. Je mehr wir in Bildung investieren, desto schneller erreichen wir unser Ziel.
Was kann die ägyptische Regierung in den nächsten Jahren tun, um das Vertrauen von Investoren, Geschäftspartnern und den Menschen wiederzugewinnen? Die Deutschen sind sich beispielsweise nicht sicher, ob sie nach Ägypten reisen können.
Wir müssen die Menschen mitnehmen und eine Gesellschaft errichten, in der alle an einem Strang ziehen. Man muss den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, unter dem alle zusammenleben können, sodass keiner diskriminiert wird. Wenn wir das erreichen, kommen auch die Sicherheit und das Vertrauen aus dem Ausland zurück.