Trotz massiver Differenzen haben sich die großen Wirtschaftsmächte bei ihrem Gipfel in Buenos Aires in letzter Minute auf einen Minimalkonsens geeinigt. Besonders umstritten waren bei dem Treffen der G20 die Themen Welthandel, Klimaschutz und auch Migration, wo die Europäer quälende Zugeständnisse machen mussten. Einen Durchbruch erzielten China und die USA nach Abschluss des zweitägigen Treffens am Samstag, indem sie einen 90-tägigen „Waffenstillstand“ in ihrem Handelskrieg vereinbarten und neue Verhandlungen aufnehmen wollen.
Der Gipfel der Staats- und Regierungschefs war zum zehnjährigen Jubiläum überschattet von der Eskalation zwischen Russland und der Ukraine, den Handelsspannungen und der Affäre um den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi im Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul. Zum Abschluss räumte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) „Schwierigkeiten“ ein, bewertete die Ergebnisse aber dennoch positiv.
Die G20-Staaten vereinbarten am Samstag in der argentinischen Hauptstadt eine Reform der Welthandelsorganisation WTO – in der Hoffnung, damit auch die Handelsspannungen lösen zu können. „Das ist eine wichtige Einigung“, sagte Merkel. Im Klimaschutz wurden wie erstmals vor einem Jahr beim G20-Gipfel in Hamburg nur die Differenzen festgeschrieben, da Trump aus dem Pariser Klimaabkommen zur Begrenzung der Erderwärmung ausgestiegen war.
Die Ergebnisse des G20-Gipfels in Buenos Aires
Vielleicht der größte Erfolg von Buenos Aires. Das internationale Handelssystem bleibe derzeit hinter seinen Zielsetzungen zurück, stellen die Staats- und Regierungschefs fest. „Wir unterstützen daher die notwendige Reform der WTO, um ihre Arbeitsweise zu verbessern.“ Die Fortschritte sollen bereits beim nächsten Gipfeltreffen im japanischen Osaka überprüft werden. Bei den anvisierten Reformen geht es unter anderem um bessere gemeinsame Spielregeln und eine Reform der Streitschlichtungsverfahren. Die USA, aber auch die EU werfen China fehlenden Marktzugang und regelwidrige Staatssubventionen vor.
Steigen nach den USA weitere G20-Staaten aus dem Pariser Abkommen zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs aus? Brasilien mit seinem künftigen Präsidenten Jair Bolsonaro hat das bereits angedroht – ein Schlüsselstaat für den Schutz des Regenwaldes. Er tritt im Januar sein Amt an. Mit Ausnahme der USA versichern in Buenos Aires noch alle anderen Staaten, an den 2015 eingegangenen Verpflichtungen festhalten zu wollen. Sie sehen vor, den Anstieg der globalen Temperatur auf weniger als zwei Grad und möglichst 1,5 Grad zu begrenzen. Vergleichsmaßstab ist die Zeit vor der Industrialisierung. Als Wackelkandidat beim Thema hatte zuletzt auch die Türkei gegolten.
Mit der Einführung von Sonderzöllen versucht US-Präsident Donald Trump seit einigen Monaten, heimische Unternehmen vor ausländischer Konkurrenz zu schützen – zur Empörung betroffener exportstarker Regionen wie der EU und China. Beim G20-Gipfel gab es keine Entspannung, aber immerhin auch keine neue Eskalation. Das dürfte vor allem die deutschen Autobauer freuen, die ebenfalls Sonderzölle fürchten müssen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker betonte, zwischen der EU und den USA gelte im Handelsstreit weiter das im Juli ausgehandelte Stillhalteabkommen.
Die zuletzt wieder eskalierte Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine war beim G20-Gipfel nur am Rande Thema. Unter anderen versuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel, in einem Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin zu vermitteln. Konkret schlug sie vor, ein Gespräch auf Ebene von außen- und sicherheitspolitischen Beraten zu organisieren, bei dem neben der Ukraine und Russland auch Deutschland und Frankreich vertreten wären. US-Präsident Donald Trump sagte ein geplantes Treffen mit Putin ab. Als Begründung gab er an, dass Russland am vergangenen Wochenende festgenommenen ukrainischen Seeleute noch nicht freigelassen habe.
Digitalkonzerne wie Amazon oder Apple verbuchen in Europa riesige Gewinne, müssen aber vergleichsweise wenig Steuern zahlen, da sie in den meisten Ländern keine versteuerbaren Firmensitze besitzen. Dass sich daran schnell etwas ändert, erscheint nach dem G20-Gipfel unwahrscheinlich. „Wir werden weiter gemeinsam daran arbeiten, eine Konsenslösung hinsichtlich der Auswirkungen der Digitalisierung der Wirtschaft auf das internationale Steuersystem zu finden“, heißt es schwammig in der Abschlusserklärung. Den Europäern bleibt damit nur der Weg, alleine eine Digitalsteuer einzuführen - doch selbst unter den EU-Staaten ist man sich beim Thema bislang nicht wirklich einig.
Hier bekennt man sich die G20 zu mehr Datenaustausch, um Steuerbetrügern das Handwerk zu legen. „Wir begrüßen die Aufnahme des automatischen Informationsaustauschs über Finanzkonten“. Zudem will man strengere Maßstäbe für die Erfassung von Staaten und Gebiete, „die die Standards zur Transparenz im Steuerbereich noch nicht zufriedenstellend umgesetzt haben“. Zugleich will man weiter daran arbeiten, die Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung bei den Steuerzahlungen (BEPS) bekämpfen. Dieser Punkt ist der deutschen Seite wichtig, denn entgangene Steuern fehlen, um mehr in Straßen und Schulen zu investieren. Und man bekennt sich zur Bekämpfung neuer Finanzkrisen zur Stärkung des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Wie geht man mit einem Kollegen um, der verdächtigt wird, den Mord an einem missliebigen Journalisten in Auftrag gegeben zu haben? Auch mit dieser Frage mussten sich Merkel & Co beschäftigen, da zu den Gipfelteilnehmern auch der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman gehörte. Ihm wird vorgeworfen, in die Tötung des kritischen Journalisten Jamal Khashoggi zumindest verwickelt gewesen zu sein. Eine einheitliche Antwort auf die Frage des Umgangs gab es beim Gipfel nicht. Russlands Präsident Putin klatschte den Kronprinzen zu Beginn lachend ab, die Europäer forderten ihn hingegen öffentlich auf, eine ausländische Begleitung der strafrechtlichen Ermittlungen in dem Fall zuzulassen.
Eine bessere Frauenförderung, die sichere Versorgung aller Menschen auf der Welt mit Nahrungsmitteln oder eine bessere Unterstützung von Bürgern bei Veränderungen der Arbeitswelt durch neue Technologien - zumindest bei diesen Themen fiel den G20-Staaten eine Einigung leicht. Die aktuelle argentinische G20-Präsidentschaft freute sich darüber. Das waren nämlich ihre Schwerpunkte.
Der Passus fand weit auseinandergehende Interpretationen, da sich sowohl die USA als auch die Klimaschützer bestätigt sahen. Merkel sah wie Umweltschützer ein klares Signal „der allermeisten“ G20-Staaten für einen Erfolg für die am Montag beginnende Weltklimakonferenz im polnischen Kattowitz. Aber auch die USA waren zufrieden, weil laut Kommuniqué „alle Energiequellen“ genutzt werden sollen. Das schließt aus ihrer Sicht weiter fossile Stoffe ein, die aber nach Angaben von Experten für den Klimaschutz bis 2050 auslaufen müssten.
Die USA sahen auch Anzeichen, dass die Koalition der Paris-Verfechter bröckele und nannten die Türkei, Saudi-Arabien oder Russland. Sie feierten die Ergebnisse insgesamt, die aus ihrer Sicht die amerikanische Handschrift trugen. So fiel die Abschlusserklärung erkennbar hinter frühere Kommuniqués zurück. Anders als im Vorjahr in Hamburg wurde der Kampf gegen Protektionismus nicht einmal mehr erwähnt. Die USA wollten eine solche Formulierung nicht ohne Hinweis auf Schutzinstrumente gegen „unfaire Handelspraktiken“ akzeptieren. Hier gab es aber Widerstand Chinas, das sich da angesprochen fühlt.
Trotz der Alleingänge Trumps gab es immerhin ein Bekenntnis zum „multilateralen Handelssystem“, auch wenn Defizite festgehalten wurden: „Das System erreicht gegenwärtig seine Ziele nicht und es gibt Raum für Verbesserungen.“ Die „notwendige Reform der WTO“ soll vorangetrieben werden. Beim nächsten G20-Gipfel am 28. und 29. Juni 2019 im japanischen Osaka sollen die Fortschritte überprüft werden.
Mit Erleichterung dürften die Finanzmärkte die Pause im Handelskrieg zwischen den USA und China aufnehmen. Trump und Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping kamen bei einem Abendessen überein, ihre Strafzölle vorerst nicht zu erhöhen oder auszuweiten. Kommt China den USA aber in einer Frist von 90 Tagen nicht ausreichend entgegen, wollen die USA den Handelskrieg wieder aufnehmen.
„Wir können alle froh sein und uns beglückwünschen, dass wir wichtige Vereinbarungen erzielt haben“, gab sich der Gastgeber, Argentiniens Präsident Mauricio Macri, zufrieden. Doch mussten die Europäer beim Thema Migration eine Niederlage hinnehmen. Anders als vor einem Jahr bestanden die USA darauf, auf inhaltliche Aussagen zu verzichten und nur knapp auf einen OECD-Bericht und Arbeiten unter der kommenden japanischen G20-Präsidentschaft zu verweisen. „Wir verbergen unsere Enttäuschung nicht“, hieß es von EU-Seite.
Im Gegenzug setzten die Europäer mit anderen durch, sich noch einmal klar zur internationalen Kooperation zu verpflichten. „Wir erneuern unser Bekenntnis zusammenzuarbeiten, um die regelbasierte internationale Ordnung zu verbessern, die in der Lage ist, effektiv auf eine sich rasch verändernde Welt zu reagieren.“ Angesichts der „Amerika zuerst“-Politik von Trump wurde dies als Erfolg gewertet.
Das Verhandlungsgeschick Merkels
Nach ihrer Flugpanne hatte sich Merkel erst mit zwölfstündiger Verspätung in das Ringen um die Handlungsfähigkeit der Gruppe eingeschaltet, die 2008 in der Weltfinanzkrise erstmals auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zusammengekommen war. Die Kanzlerin war erst am Freitagabend mit einer Linienmaschine gerade noch rechtzeitig zu einer Kulturveranstaltung im berühmten Teatro Colon mit anschließendem Gala-Dinner eingetroffen.
Im Ukraine-Konflikt um die Festsetzung ukrainischer Schiffe und Seeleute durch Russland vor der Schwarzmeerhalbinsel Krim verhandelte Merkel am Samstag mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Merkel regte ein Treffen auf Beraterebene im sogenannten Normandie-Format an, dem Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine angehören.
Aus Protest gegen das russische Vorgehen hatte Trump ein geplantes bilaterales Treffen mit Putin in Buenos Aires abgesagt. Er setzte dafür – wie die Ukraine – auf das Verhandlungsgeschick der Kanzlerin. Die Ukraine spielte wie auch Handelsfragen eine Rolle in dem Treffen Merkels mit dem US-Präsidenten. „Wir haben ein großartiges Verhältnis und ein großartiges Arbeitsverhältnis“, sagte Trump.
Die „Gruppe der 20“ aus 19 Ländern und der Europäischen Union repräsentiert zwei Drittel der Weltbevölkerung und 85 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Der G20 gehören neben der EU an: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, die Türkei und die USA.
Ungeachtet der Khashoggi-Affäre bekräftigten die Staats- und Regierungschefs, dass der übernächste Gipfel 2020 in Saudi-Arabien stattfinden soll. Dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman wird vorgeworfen, den Mord an dem Journalisten Khashoggi in Auftrag gegeben oder davon gewusst zu haben. Er konnte den G20-Gipfel für einen großen Auftritt nutzen, um aus der Isolation herauszutreten.