
Für sein Versöhnungstreffen mit Recep Tayyip Erdogan hätte Wladimir Putin wohl keinen besseren Ort wählen können als St. Petersburg. Kaum eine andere Stadt in Russland führt Besuchern den Machtanspruch des Riesenreichs so deutlich vor Augen wie die prunkvolle Zarenmetropole an der Newa.
Hier, in Putins Geburtsstadt, wollen die beiden Präsidenten an diesem Dienstag ihre monatelange Eiszeit überwinden. Das Treffen der starken Männer wird international beachtet, denn es sind weitreichende Folgen möglich: für Europas Flüchtlingspolitik, aber auch für den Syrien-Krieg.
„Es ist das erste Treffen seit dem Zusammenbruch unserer Beziehungen. Es wird also mehr als genug Themen geben“, heizt Kremlsprecher Dmitri Peskow die Erwartungen an. Für Erdogan ist es die erste Auslandsreise seit dem Putschversuch vom 15. Juli, der ihn entmachten sollte. Dass der Trip nach Russland führt, mag ein Hinweis auf die Neuorientierung der Türkei sein - die sich immer stärker von den USA und der Europäischen Union abwendet. „Der Westen hat sich auf die Seite der Putschisten gestellt“, kritisierte Erdogan vor wenigen Tagen scharf.
Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt
Dürfen türkische Staatsbürger irgendwann ohne Visum nach Europa reisen oder nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nach Auffassung der EU-Kommission nur die Regierung in Ankara geben. Die Brüsseler Behörde sah in ihrem jüngsten offiziellen Bericht noch 5 der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern. Dabei geht es unter anderem um Vorgaben zur Parteienfinanzierung und zur Unabhängigkeit der Justiz. Die EU weist dabei auf ein Gutachten der „Staatengruppe gegen Korruption“ (Greco) hin.
Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten, um die in der Türkei geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren zu erklären. 2014 und 2015 wurden türkischen Statistiken zufolge 49 Auslieferungsanträge aus EU-Ländern gestellt, ein Großteil davon wurde noch nicht abschließend bearbeitet. Nur sechs Anträge wurden genehmigt.
Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich ein Absichtsbekundung der Türkei vor.
Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, lautete die Kritik. Es wurde gefordert, dass die neuen Datenschutzregeln auch für Strafverfolgungsbehörden gelten müssen.
Dies ist der umstrittenste Punkt. Die EU verlangt von der Türkei den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zuletzt deutlich gemacht, dass er im Gegenzug ein härteres Vorgehen gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in Europa erwartet.
Erdogan ärgert, dass westliche Politiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel den Putschversuch zwar verurteilen, im selben Atemzug aber die Einhaltung demokratischer Werte in der Türkei anmahnen. Putin dürfte weniger Wert auf solche Feinheiten legen. Noch am Putschwochenende rief er bei Erdogan an, um den Umsturzversuch „kategorisch“ zu verurteilen. In der Mitteilung des Kreml dazu sind keine moralinsauren Ermahnungen an Erdogans Adresse zu lesen.
Dass Putin und Erdogan überhaupt wieder miteinander sprechen, erschien bis Ende Juni höchst unwahrscheinlich. Dann aber gelang es Erdogan mit einem geschickten Schachzug, die seit Ende November schwelende Krise mit dem Kreml um den Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs beizulegen. Er entschuldigte sich in einem Brief zwar wie von Putin gefordert - aber nicht bei der Führung in Moskau, sondern bei den Angehörigen des getöteten Piloten.
Kremlsprecher Peskow, von 1996 bis 2000 Diplomat an der russischen Botschaft in der Türkei, liest aus dem Brief hingegen das geforderte Bedauern heraus.
Moskau sieht sich als Sieger im Machtkampf mit Ankara und erhofft sich von der Wiederannäherung eine Schwächung der EU und der Nato. „Putin will die Türkei in seine Pläne einer eurasischen Allianz einbinden“, sagt der Politologe Fjodor Lukjanow. „Die Frage ist, ob Erdogan bereit ist, diesen Weg einzuschlagen“, meint der Herausgeber der Fachzeitschrift „Russia in Global Affairs“.
Mit der geplanten Gasleitung Turkish Stream durch das Schwarze Meer und dem Bau des Atomkraftwerks Akkuyu hat Russland auch wirtschaftliche Interessen.