
Beide Seiten melden Verstöße: Artilleriebeschuss, Luftangriffe und sonstige Kampfhandlungen. Und doch hat sich die Lage in Syrien spürbar verbessert. Seit Beginn der Waffenruhe ist die Gewalt im Land tatsächlich weniger geworden. Seit einer Woche besteht wieder ein kleines bisschen Hoffnung, dass der seit fünf Jahren anhaltende Bürgerkrieg doch noch auf diplomatischem Wege beendet werden könnte. Nun hängt alles davon ab, ob die Friedensgespräche in der kommenden Woche fortgesetzt werden.
Schon die ersten Stunden der von Washington und Moskau ausgehandelten Feuerpause waren eine positive Überraschung gewesen. Viele Einwohner syrischer Städte berichteten von einer geradezu schaurigen Stille - von einer Stille, wie sie sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatten. Allerdings profitieren längst nicht alle Syrer von der am Verhandlungstisch erwirkten Verschnaufpause. Denn die von Terrorgruppen wie dem IS oder der Nusra-Front gehaltenen Gebiete sind von dem Waffenstillstand ausdrücklich ausgeschlossen. Und auch in anderen Teilen des Landes kommt es nach wie vor zu Kämpfen.
In den vergangenen Tagen häuften sich Berichte über Verstöße gegen die Vereinbarung. Mit Unterstützung von Russland sollen die syrischen Streitkräfte wieder Ziele angegriffen haben, die weit von den Gebieten der Terrorgruppen weit entfernt sind. Die Opposition beklagte sich über mehr als 170 militärische Aktionen gegen gemäßigte Rebellen. Russland wiederum meldete am Donnerstag, dass die Rebellen seit dem 28. Februar in 66 Fällen gegen die Feuerpause verstoßen hätten.
Trotzdem fällt die Bilanz nach einer Woche überwiegend positiv aus. Insgesamt sei die Gewalt um 90 Prozent zurückgegangen, teilte die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Über Aktivisten vor Ort seien in den ersten fünf Tagen des Waffenstillstands 118 Tote dokumentiert worden, am Donnerstag seien es zwölf gewesen - und damit so wenige wie schon seit 13 Monaten nicht mehr.
Ein großes Problem ist aber nach wie vor, dass Hilfslieferungen nicht dort ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. „Es mag sein, dass inzwischen weniger Syrer bei Bombenangriffen sterben, aber sie sind noch immer von Hunger bedroht“, sagt Henrietta McMicking von der Hilfsorganisation Syria Campaign. Die Vereinten Nationen hatten am Montag angekündigt, im Laufe der Woche etwa 154 000 Syrer mit Lieferungen zu unterstützen. Bisher konnte aber nur ein Bruchteil der von Belagerungen betroffenen Menschen erreicht werden.
Der UN-Nothilfe-Experte Jan Egeland betonte in den vergangenen Tagen mehrfach, dass die Hilfskräfte vor Ort mit „logistischen“ Problemen zu kämpfen hätten. Zum einen standen offenbar nicht genügend Lastwagen zur Verfügung. Zum anderen verweigerten Vertreter der syrischen Regierung den UN-Konvois aber wohl auch die erforderlichen Genehmigungen oder entwendeten medizinische Ausrüstung, bevor die Konvois überhaupt losfahren konnten. Inzwischen gebe es aber „Anzeichen“ dafür, dass das System zum Erhalt der entsprechenden Genehmigungen „deutlich vereinfacht“ werden könnte, sagte Egeland.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Wenig Hoffnung besteht trotz der Feuerpause wohl auf ein schnelles Ende der Flüchtlingskrise. Dafür müssten die Waffen nicht bloß ein paar Tage, sondern viele Wochen oder gar Monate schweigen. Immerhin gab es Berichte, nach denen sich einige der Zehntausenden Menschen, die zuletzt wegen der russisch-syrischen Offensive gegen die Rebellen-Hochburg Aleppo in Richtung Türkei geflüchtet waren, wieder auf den Weg zurück in die Heimat gemacht hätten. Nach Angaben von Hilfsorganisationen übernachten aber noch immer Tausende in provisorischen Camps, in Autos oder einfach auf freiem Feld.
Auf politischer Ebene hängt die aktuelle Initiative ganz von den internationalen „Schutzmächten“ der Kriegsparteien ab - vom Iran und von Saudi-Arabien ebenso wie von Russland und den USA. Die USA streben eine Lösung an, mit der unter Einbindung des UN-Sicherheitsrates innerhalb von 18 Monaten ein grundlegender Wandel in Syrien herbeigeführt werden soll. Ob Russland am Ende doch einem Rücktritt von Präsident Baschar al-Assad zustimmen wird, bleibt abzuwarten. In jedem Fall zeigt gerade der Erfolg des Waffenstillstands, wie sehr die Lage in Syrien von Moskau und Washington abhängig ist.
Die aktuelle Feuerpause gilt für zwei Wochen. Das klar formulierte Ziel ist eine Verlängerung. Was allerdings passiert, wenn eine Verlängerung nicht formell bestätigt wird, ist unklar. Die bereits jetzt auftretenden Verstöße von beiden Seiten machen die Sache nicht einfacher. Ein weiteres Problem ist, dass es vor Ort keine wirklich unabhängigen Beobachter gibt, die solche Verstöße glaubwürdig dokumentieren könnten. Auch hinsichtlich möglicher Strafen gibt es keine klaren Regelungen.
Im günstigsten Fall könnte eine Friedensvereinbarung zwischen der Regierung und Rebellen dazu genutzt werden, gemeinsam endlich auch dem IS-Terror ein Ende zu setzen. Doch ein solches Szenario scheint derzeit noch in weiter Ferne zu liegen. Wenn die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen, werden beide Seiten wohl versuchen, mit militärischen Mitteln Tatsachen zu schaffen. Am 9. März sollen die Gespräche in Genf fortgesetzt werden. Dann wird sich entscheiden, ob die Waffenruhe nur eine kurze Atempause war, oder doch vielleicht der Anfang vom Ende des Bürgerkriegs.