Treffen mit Juncker und Tusk Erdogan besucht die „Kreuzritter“

Statt Nazi-Tiraden nun Schalmeientöne: Erdogan spricht vor seinem Besuch in Brüssel von einer „strategischen Partnerschaft“ und einem „Win-Win-Konzept“. Was will Erdogan von Europa – und wie kann die EU mit ihm umgehen?

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Der türkische Präsident reist nach Brüssel, um das Verhältnis zur EU zu kitten. Quelle: AP

An diesem Donnerstag kommt Recep Tayyip Erdogan nach Brüssel. Am Rand des Nato-Gipfels trifft der türkische Staatschef EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk. Es dürfte ein schwieriges Gespräch werden. Mit der vergangenen Monat gebilligten Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei werde „über Europa die Sonne aufgehen“, hatte Erdogan vor dem Verfassungsreferendum versprochen. Aber tatsächlich sieht es düster aus im Verhältnis der Türkei zur EU.

Das liegt vor allem an Erdogan. „Faschisten“, „Rassisten“, „Nazi-Überbleibsel“ – für die europäischen Partner der Türkei hatte der türkische Staatschef in den vergangenen Monaten keine guten Worte. Im Wahlkampf verhöhnte er Europa als einen „verrotteten Kontinent“, die EU dämonisierte er als „Allianz der Kreuzritter“, die den Kampf gegen den Islam auf ihre Fahnen geschrieben hätten.

Jetzt klingt es plötzlich ganz anders. „Wir wollen den EU-Beitrittsprozess im gegenseitigen Respekt fortsetzen“, beteuerte Erdogan vor zwei Wochen in einer Botschaft zum Europatag. Sein Sprecher Ibrahim Kalin bezeichnete die EU-Mitgliedschaft als „strategisches Ziel“ seines Landes. Europaminister Ömer Celik, der das Treffen mit Juncker und Tusk vorbereitete, kann sich bereits einen „großen Gipfel“ mit der EU vorstellen. Die Entscheidung darüber könnte an diesem Freitag beim Treffen Erdogans mit Juncker und Tusk fallen, heißt es in Ankara. „Wir glauben an die gemeinsamen Werte der Türkei und der Europäischen Union“, versichert Celik. 

Dass Ankara nach den Nazi-Tiraden im Wahlkampf nun versöhnliche Töne anschlägt, hat pragmatische Gründe: Die Türkei braucht Europa. Darauf hat in den vergangenen Monaten vor allem der für Wirtschafts- und Finanzfragen zuständige Vizepremier Mehmet Simsek immer wieder hingewiesen. Die Europäer sind nicht nur die wichtigsten Handelspartner der Türkei, sondern auch die größten Investoren – und kaum ein Schwellenland ist so sehr auf den Zustrom ausländischen Kapitals angewiesen wie die Türkei.

Eine besondere Rolle spielt dabei Deutschland. Das kann auch Erdogan nicht ignorieren. In einer Rede vor dem Unternehmerverband Tümsiad im westtürkischen Bursa wies Erdogan vergangene Woche darauf hin, dass Deutschland der wichtigste Außenhandelspartner der Türkei sei. „Das bedeutet: Wir brauchen einander“, erklärte der Staatschef den Wirtschaftsvertretern.

Doch gerade im Verhältnis zu Deutschland gibt es aktuell heftigsten Streit: Der Fall des inhaftierten „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel, das neuerliche Besuchsverbot für deutsche Abgeordnete bei den Bundeswehrsoldaten im südtürkischen Incirlik, Spitzelvorwürfe gegen türkische Imame in Deutschland und Asylanträge mutmaßlicher türkischer Putschverdächtiger, deren Auslieferung Ankara fordert – es gibt reichlich Kontroversen.


Warum Deutschland an EU-Beitrittsverhandlungen festhält

Und dann ist da noch Erdogan selbst. Mit der Wahl zum Chef der Regierungspartei AKP am vergangenen Sonntag baut er seine Macht weiter aus. Erdogan-Kritiker, die es auch in den Reihen der Partei durchaus gibt, müssen sich warm anziehen. Beobachter erwarten, dass der neue Vorsitzende die AKP nun auf Vordermann bringen und alle wichtigen Schaltstellen mit ergebenen Gefolgsleuten besetzen wird, bis hinunter in die von seiner Partei kontrollierten Kommunen. Den Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängt wurde und dem Staatschef die Möglichkeit gibt, per Dekret zu regieren, soll auf unbestimmte Zeit beibehalten werden. Man könne ihn erst aufheben, wenn in der Türkei „Frieden und Wohlstand“ eingekehrt seien, sagt Erdogan. Das kann dauern. Neue Razzien und Massenverhaftungen von Regierungskritikern diese Woche zeigen, wohin die Reise geht. Türkische Oppositionspolitiker und Bürgerrechtler sehen das Land unter Erdogan auf dem Weg in die Diktatur.

Angesichts dieser Entwicklung von „gemeinsamen Werten“ zu sprechen, wie es Europaminister Celik tut, klingt kühn. Die EU-Staaten sind uneins, wie sie mit Erdogans Türkei umgehen sollen. Die Beitrittsverhandlungen kamen schon ein Jahr nach ihrer Aufnahme Ende 2005 wieder weitgehend zum Stillstand. Von 33 Beitrittskapiteln wurde bisher nur eines abgeschlossen. 15 weitere Kapitel sind eröffnet, eines davon kam im Juni 2016 hinzu, wie es im Flüchtlingspakt zwischen der EU und Ankara vereinbart war. Aber mit Erdogans willkürlich wirkenden „Säuberungen“ nach dem Putschversuch und der Verfassungsänderung ist eine ohnehin unwahrscheinliche Aufnahme der Türkei noch weiter in die Ferne gerückt.

Die Bundesregierung will trotz aller Bedenken an den Beitrittsgesprächen festhalten. Sonst treibe man die Türkei „in Richtung Russlands“, warnt Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Er dürfte dabei allerdings auch den Flüchtlingspakt im Hinterkopf haben. Luxemburg und Österreich fordern dagegen den Abbruch der Verhandlungen. Es sei „absolut falsch, wenn diese Fiktion des Beitritts aufrechterhalten wird, obwohl sich die Türkei jedes Jahr weiter weg von Europa entfernt“, sagt Außenminister Sebastian Kurz.

Erdogan wird in Brüssel beim Treffen mit Juncker und Tusk selbstbewusst auftreten. Die EU müsse nun schleunigst weitere Beitrittskapitel eröffnen, sonst werde die Türkei „auf Wiedersehen“ sagen, kündigte der Präsident anlässlich seiner Rückkehr in die Regierungspartei AKP an. Für beide Seiten steht viel auf dem Spiel. Die EU braucht Ankara als Partner in der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik. Die Türkei wiederum hofft auf eine Erweiterung der 1995 geschlossenen Zollunion. Würden die Handelsverträge auf Agrarprodukte, Dienstleistungen und die öffentliche Auftragsvergabe ausgeweitet, könnte die Türkei nach Berechnungen des Münchner Ifo-Instituts ihre Agrarexporte in die EU verdoppeln und sogar mehr als vier Mal so viele Dienstleistungen in den Staaten der Union erbringen. Auch EU-Unternehmen würden profitieren, durch höhere Exporte in die Türkei und leichteren Zugang zum Banken- und Versicherungsmarkt.

Während es bei den Wirtschaftsbeziehungen durchaus gemeinsame Interessen gibt, droht auf der politischen Ebene ein Showdown: Erdogan plant die Einführung der Todesstrafe und hat dazu eine weitere Volksabstimmung angekündigt. Kommissionschef Juncker sieht darin die „roteste aller roten Linien“ und „eine Absage der Türkei an die europäische Familie“. Das würde den Beitrittsgesprächen „die Grundlage entziehen“, warnt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Macht Erdogan ernst mit der Todesstrafe, wäre wohl nicht der Abbruch der Beitrittsverhandlungen unumgänglich. Die Türkei müsste dann auch ihren Sitz im Europarat aufgeben.

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