Die Türkei ist ein gespaltenes Land. Am Sonntag stimmen über 55 Millionen Wahlberechtigten über eine neue Verfassung ab, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan deutlich mehr Macht geben soll. Die Meinungsforscher prognostizieren ein knappes Ergebnis. 51 bis 52 Prozent würden laut der letzten Umfragen für die neue Verfassung stimmen.
Zahlen und Fakten zum Referendum in der Türkei
55,3 Millionen Wahlberechtigte sind beim Referendum in der Türkei am 16. April dazu aufgerufen, für oder gegen die Einführung eines Präsidialsystems zu stimmen. Die Wahl findet unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt - rund 380 000 Sicherheitskräfte sind am Wochenende im Einsatz. Im Ausland - wo zusätzlich 2,9 Millionen wahlberechtigte Türken registriert sind - wurde bereits abgestimmt.
Im Osten der Türkei öffnen die Wahllokale um 7.00 Uhr (Ortszeit/6.00 Uhr MESZ) und schließen um 16.00 Uhr. In anderen Landesteilen kann von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr abgestimmt werden.
Auf der linken Hälfte der Stimmzettel steht „Ja“ auf weißem Hintergrund und auf der anderen „Nein“ auf braunem Hintergrund. Der Wähler entscheidet, indem er einen Stempel mit der Aufschrift „tercih“ („Auswahl“) auf den bevorzugten Teil drückt. Dann steckt er den Stimmzettel in einen Umschlag, der in eine Urne kommt. Eine Frage ist auf dem Stimmzettel nicht vermerkt. Nach dem wochenlangen Wahlkampf dürften die Optionen aber bekannt sein.
Landesweit gibt es gut 167.000 Wahlurnen (Wahllokale haben in der Regel jeweils mehrere Wahlurnen). Vertreter von Regierungs- und Oppositionsparteien dürfen Beobachter an die Urnen entsenden, um die Abstimmung und die Auszählung zu beobachten.
Diese Beobachter müssen das Ergebnis aus der jeweiligen Urne unterzeichnen, bevor die Stimmzettel und das Wahlergebnis zur Wahlkommission des Bezirks gebracht werden. Dort werden die Ergebnisse - wieder unter Beobachtung von Vertretern sowohl der Regierungspartei AKP als auch von Oppositionsparteien - in ein Computersystem eingegeben und zur Wahlkommission nach Ankara übermittelt. In der nationalen Wahlkommission in Ankara sitzen ebenfalls Vertreter der Regierung und der Opposition.
Die versiegelten Wahlurnen werden mit einem eigenen Flugzeug unter Aufsicht nach Ankara gebracht und dort der Wahlkommission übergeben. Am Wahltag werden die Stimmen nach Schließung der Wahllokale ebenfalls unter Beobachtung von Regierungs- und Oppositionsparteien ausgezählt.
Ja, aber nicht viele. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat elf internationale Experten nach Ankara entsandt. Zusätzlich sind seit dem 25. März 24 internationale Langzeitbeobachter der OSZE im Land im Einsatz.
Am Abend des Referendums. Unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale beginnt die Auszählung. Laut Wahlgesetz dürfen Medien bis 21 Uhr keine vorläufigen Ergebnisse veröffentlichen. Die Wahlbehörde kann am Wahltag selbst aber eine frühere Veröffentlichung erlauben. Ein Verstoß wird allerdings nicht geahndet, das heißt, Medien könnten das Veröffentlichungsverbot auch ignorieren.
Prognosen oder Hochrechnungen gibt es nicht, dafür aber Teilergebnisse, die fortlaufend aktualisiert werden. Wann der Ausgang des Referendums feststeht, hängt vor allem davon ab, wie knapp das Resultat ausfällt. Vermutlich dürfte aber am späteren Abend oder spätestens in der Nacht deutlich werden, welche Seite den Sieg für sich verbuchen kann.
Ja. In den Gefängnissen werden nach den Plänen der Wahlkommission insgesamt 461 Wahlurnen stehen. Allerdings sind wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilte Gefangene von der Wahl ausgeschlossen. Die zahlreichen Regierungskritiker in Untersuchungshaft können aber ihre Stimmen abgeben. Gewährleistet ist ebenfalls, dass der inhaftierte „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel wählen kann: In Silivri, wo der deutsch-türkische Journalist in Untersuchungshaft sitzt, werden 33 Wahlurnen aufgestellt.
Wenn die Türken für die Verfassungsänderung stimmen, würde sich das Land in einer „gewählten Diktatur von Präsident Erdogan“ wiederfinden, analysiert der britische „Economist“ in seiner neusten Ausgabe. Wer Regierungsvertreter in Berlin um eine Einschätzung zum Verhältnis zur Türkei bittet, wird auf den 17. April vertröstet, den Tag nach dem Referendum. Vorher sei die Politik dort unberechenbar. Ab Montag entscheidet sich also, ob die düstere Prognose des „Economist“ Realität wird. Zwei mögliche Szenarien für beide Ergebnisse:
Erstes Szenario: Die Türken stimmen für Erdogans Verfassungsänderung. Der AKP-Gründer wäre nach jahrelangem politischem Kampf am Ziel. Ab 2019, wenn die neue Verfassung in Kraft treten würde, wäre der Präsident nicht nur Staatschef, sondern stünde auch an der Spitze der Regierung. Einen Ministerpräsidenten gäbe es nicht länger. Der Präsident würde seine Minister und Stellvertreter benennen. Anders als in den Vereinigten Staaten hätte das Parlament kein Mitspracherecht.
Erdogan könnte zudem ganz offiziell wieder Chef der AKP werden, was ihm als Präsident bislang nicht erlaubt ist. De facto beherrscht er die durch ihn gegründete Partei allerdings auch jetzt. Künftig könnte er das Parlament auflösen und Gesetze blockieren. Zudem kann er in Notstandszeiten Dekrete erlassen, die de facto Gesetze wären. Kurz: Die Macht des Staatspräsidenten wäre nahezu grenzenlos. Anders als in den USA wäre die Legislative deutlich schwächer.
Roy Karadag von der Universität Bremen glaubt, dass ihm diese Machtfülle eine gewisse Sicherheit für einen „Kurs der Versöhnung“ ermöglichen würde. „Womöglich geht er dann auf jene Kurden zu, die ihn unterstützt und gewählt haben, unterstützt sie finanziell und beim Wiederaufbau. Gegenüber den Europäern würde er auf Zusammenarbeit statt Konfrontation setzen. Und er könnte den Ausnahmezustand beenden“, sagt Politikwissenschaftler Karadag.
All das würde er nur dann tun, wenn er den Eindruck hat, seine Macht sei nicht in Gefahr. Und das hängt wiederum davon ab, wie sich seine politischen Gegner verhalten. „Sollte die Opposition ihre politische Niederlage ohne großen Widerstand und Proteste akzeptieren, wäre es für Erdogan einfacher sich zu mäßigen“, sagt Karadag. Wittert Erdogan aber Gefahr, kann er ab 2019 noch viel härter gegen seine politischen Gegner vorgehen. „Dann wird der Ausnahmezustand faktisch zum politischen Alltag“, meint Türkeiexperte Karadag.
Wie die Europäer Erdogan unter Druck setzen können
Zweites Szenario: Die Türken lehnen die neue Verfassung ab. Nach der Parlamentswahl 2015, bei der es schon damals um die Verfassungsänderung ging, hätte Erdogan erneut eine Niederlage erlitten. Ioannis N. Grigoriadis von der Stiftung Wissenschaft und Politik denkt nicht, dass der Staatspräsident sich geschlagen geben würde. „Neuwahlen wären am wahrscheinlichsten“, sagt der Politikwissenschaftler. Erdogan würde demnach probieren, eine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu bekommen, mit der er die Verfassung trotzdem ändern könnte. Von diesem Plan würde er nur dann ablassen, ist Grigoriadis überzeugt, wenn er das Referendum mit deutlicher Mehrheit verlieren würde.
Davon hinge auch ab, ob sich ein innerparteilicher Gegner gegen Erdogan auflehnt. Je deutlicher die Niederlage, desto wahrscheinlicher wäre das, meint Roy Karadag. „Zum ersten Mal seit 15 Jahren könnte ihm jemand seine Position streitig machen. Die Frage ist, ob er dann noch die faktische Autorität hätte, um sich zu behaupten.“
Unabhängig davon, wie das Referendum ausgeht, werden die Europäische Union und die Türkei an ihrem schwer beschädigten Verhältnis arbeiten müssen. „Mit ein wenig Diplomatie lässt sich das nicht wieder kitten“, meint Karadag. Wichtigster Punkt sind aus seiner Sicht die EU-Beitrittsverhandlungen. „Die türkische Bevölkerung will wissen, was beim Thema Beitritt noch möglich ist. Und die Europäer ebenfalls.“ Darauf müssten Türkei und EU eine Antwort finden. „Sonst verspielen sie jede Glaubwürdigkeit.“ An eine demonstrative Versöhnung glaubt der Politikwissenschaftler nicht. „Nach allem, was passiert ist, wäre das eine ziemliche Überraschung“, sagt Karadag.
Auch wenn eine Versöhnung eine Überraschung wäre, kann Erdogan seinen Konfrontationskurs mit den Europäern kaum fortsetzen. Die Türken brauchen nämlich dringend mehr zollfreien Handel mit den Europäern. Mitte Februar war der türkische Vizepremier Mehmet Şimşek zu Besuch in Berlin, um eine Vertiefung der Zollunion zwischen EU und Türkei auszuloten. Erdal Yalcin vom Münchner ifo Institut hat ausgerechnet, dass das türkische Bruttoinlandsprodukt innerhalb von zehn Jahren um über 1,8 Prozent zusätzlich wachsen könnte, wenn der freie Handel nicht nur für die Industrie gelte, sondern auch für Agrar- und Dienstleistungen. Im besten Fall stiegen türkische Exporte in die EU um 70 Prozent. „Schon die Drohung, die Zollunion nicht zu vertiefen, würde die türkische Lira auf Talfahrt schicken“, sagt Yalcin. Bislang hat Erdogan die türkische Wirtschaft mit staatlichen Finanzspritzen unterstützt. Ob er nun gestärkt oder geschwächt aus dem Referendum hervorgeht – Erdogan muss sein Land vor einer Rezession bewahren.