Einerseits zittern die Bürger vor steigenden Kosten, andererseits ist der Verbrauch seit Beginn des Ukraine-Kriegs am 24. Februar nur wenig zurückgegangen. Nach Berechnungen des Energieökonomen Oliver Ruhnau von der Hertie School in Berlin haben die Privathaushalte allen Sparappellen der Politik zum Trotz ihren Konsum um lediglich knapp sechs Prozent verringert.
Die Unternehmen hingegen reagierten laut der Hertie-Studie deutlich schneller. „Sie haben bereits im vergangenen September, als die Großhandelspreise gerade anfingen zu steigen, ihren Verbrauch signifikant zurückgefahren“, sagt Ruhnau – er schätzt um rund elf Prozent seit Beginn der Krise im vergangenen September.
Sind also die falschen Preissignale gesetzt worden? Und hätten wir angesichts der drohenden Gasmangellage mehr einsparen sollen? Wenn es nach Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geht, dann sind die explodierenden Preise bereits Anreiz genug – er verlegt sich deshalb vor allem auf Bitten und Appelle, sparsamer mit Energie umzugehen. Doch Klaus Schmidt, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, hält davon wenig. „Die Ökonomie zeigt klar: Appelle bringen fast nichts“, sagt er. Gefordert seien „deshalb klare Preissignale“. Das haben die Wirtschaftswissenschaftler auch in einem Brief an Habeck formuliert und mit Vorschlägen unterlegt. „Ein hoher Gaspreis ist der effizienteste Anreiz, den Verbrauch einzuschränken“, heißt es darin. Wenn jedoch das Preissignal außer Kraft gesetzt werde, hätten die Verbraucher keinen Anreiz mehr, beim Gasverbrauch zu sparen.
Wird Gas noch knapper und teurer?
Kurze Verträge abschließen, um bald einen billigeren zu bekommen – das galt unter Verbrauchern lange als gute Strategie. Bei Erdgas wurde so etwas zuletzt aber böse bestraft, denn die Teuerung nahm rasant zu: Binnen eines Jahres schnellten die Preise für Haushalte im Schnitt um 159 Prozent nach oben, wie das Vergleichsportal Verivox mitteilt. Kostete Gas für eine Nutzenergie von 20.000 Kilowattstunden im Juli 2021 noch 1236 Euro, waren es im Juli 2022 schon 3199 Euro.
Auch im internationalen Rohstoffgroßhandel sind die Zuwächse enorm. Nach Angaben des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts lag der mit einem globalen Index ermittelte Gaspreis im Juni um fast 130 Prozent über dem Vorjahreswert. Nicht-russisches Gas, das Länder und Konzerne sich kurzfristig noch beschaffen können, ist oft nur gegen deutliche Aufschläge zu haben. Viele Großeinkäufer müssen die erhöhten Preise dann an die Versorger und diese dann an die Endkunden weitergeben.
Das Ende des Anstiegs ist wohl noch nicht erreicht. Für August und September kündigten laut Verivox 52 örtliche Gas-Grundversorger Preiserhöhungen um durchschnittlich 50 Prozent an. „Sollten die Gaslieferungen weiter gedrosselt werden oder sogar ganz wegfallen, ist sogar eine Verdreifachung realistisch“, hieß es. Strom würde dann ebenso noch einmal teurer. Sicher ist also, dass eine weitere Gasverknappung die Energiepreise zusätzlich antreiben dürfte. Das genaue Ausmaß hängt von den tatsächlichen Liefereinschränkungen ab.
Nein. Auch Verbraucher, die länger laufende Verträge haben, müssen sich auf Extra-Kosten einrichten. Der Preisanstieg wird derzeit noch etwas abgebremst, weil Gasimporteure wie Uniper die Mehrbelastungen nicht an ihre Bestandskunden weiterreichen dürfen. Nach einer Gesetzesänderung soll sich das jedoch ändern. Bisher ist unklar, ob es hierzu ein Umlagesystem gibt oder die tiefrot wirtschaftenden Importeure Preiserhöhungen auf ihre Abnehmer – Stadtwerke und die Industrie – überwälzen dürfen. Es wird aber wohl so oder so teurer.
Präzise abschätzen lässt sich das heute nicht. Fest steht allerdings: Sollte nur wenig Leitungskapazität von Nord Stream 1 genutzt werden, würde sich die Gasknappheit auch mit Blick auf die kalte Jahreszeit verschärfen. Schon vor Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine waren die Speicherstände niedriger als in den Vorjahren. Den letzten aktuellen Gesamtwert für Deutschland gab die Datenbank des Netzwerks Gas Infrastructure Europe zum Montag (18. Juli) mit 65 Prozent an. Im größten deutschen Speicher in Rehden waren es nur knapp 34 Prozent. Der dortige Betreiber gab sich relativ zuversichtlich: Man habe bisher „keine Auswirkungen des Nord-Stream-Stillstandes“ feststellen können und nehme auch an, „dass weiterhin eingespeichert wird“.
Sie rechnete unlängst durch, wie sich der Speicherstand im Herbst und Winter bei einer 40-Prozent-Lieferung entwickeln würde. Ergebnis: Nur wenn der Gasverbrauch durch Sparmaßnahmen um ein Fünftel sinkt und ab Januar neue Terminals für verflüssigtes Erdgas (LNG) an der Nordsee gut genutzt werden, sei das zu packen. Geht die Liefermenge über Nord Stream 1 stärker zurück, müsste freilich noch mehr eingespart werden.
Vorerst bleibt die Abhängigkeit bestehen. Der Anteil der russischen Gaslieferungen – lange mehr als die Hälfte des deutschen Verbrauchs – sank bis Ende Juni auf 26 Prozent, wie es in dem am Mittwoch vorgelegten „Dritten Fortschrittsbericht Energiesicherheit“ heißt. Das liege aber auch an den gedrosselten Lieferungen von Gazprom. Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet damit, dass bis Ende des Jahres der Anteil russischer Gaslieferung am Gasverbrauch auf etwa 30 Prozent gesenkt werden kann. Doch solange die Rohstoffgroßmacht dominantes Ursprungsland bleibt, sind die Verbraucher verwundbar. Auch in der gashungrigen Chemie- und Pharmaindustrie und in vielen anderen Branchen sind die Sorgen groß.
Weitere wichtige Quellen sind für die Bundesrepublik Norwegen mit gut 20 Prozent und die Niederlande mit etwa 11 Prozent. Tempo kommt jetzt auch ins Thema LNG. Das unter hohem Druck tiefgekühlte, per Schiff transportierte verflüssigte Erdgas bezieht Deutschland bisher vor allem aus den USA. Erste Import-Terminals sollen nun möglichst schon rund um den Jahreswechsel in Wilhelmshaven und Brunsbüttel starten, weitere Anlandestellen folgen. Ob Verträge mit Großexporteur Katar zustande kommen, war zuletzt noch ungewiss. Die Förderung eigenen deutschen Gases kann bestenfalls 5 Prozent des heimischen Verbrauchs decken. Es gibt aber Pläne, in der Nordsee ein neues Feld anzuzapfen.
Ramona Pop vom Bundesverband der Verbraucherzentralen berichtet, dass „zunehmend Menschen mit Sorgen, Existenznöten und Verzweiflung“ zur Beratung kämen. „Schockartige Preissteigerungen“ müssten verhindert werden, echte Entlastungen seien nötig, sagte sie in Richtung Bund. Verbraucherinnen und Verbraucher sollten nun „Energie sparen, sparen, sparen und – falls finanziell möglich – vorsichtshalber Rücklagen für Nachzahlungen bilden“. Zudem könne etwa der Kauf von Spar-Duschköpfen helfen. Neben Privatleuten sieht Pop die Industrie, den Handel und die öffentliche Hand in der Pflicht, weniger Energie zu verbrauchen.
Damit zielen die Ökonomen auf die zahlreichen Ankündigungen der Ampelkoalition, mit staatlichen Hilfen den Preisschock zu lindern. Anders gesagt: Indem man den Bürgern die hohen Kosten erspart, vermindert man auch das Sparen selbst. Der Beirat im Bundeswirtschaftsministerium regt deshalb an, moderate Preise für eine Grundmenge an Gas anzustreben, die sich dem Volumen nach dem Verbrauch des Vorjahres richtet. Bei jeder Kilowattstunde darüber hinaus sollten die hohen Marktpreise aber voll durchschlagen, meint Beiratsvorsitzender Schmidt. Schon bei einer internen Sitzung im April hatten der Beirat im Ministerium auf die unzureichende Anreizwirkung bei den Gaspreisen hingewiesen. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm fasst die Kritik in einem Satz zusammen: „Die Ignoranz gegenüber Preissignalen rächt sich schon jetzt“.
Einsparpotenzial deutlich verfehlt
Auch die Forscher des DIW in Berlin haben bereits im April versucht, die mögliche Einsparmenge an Gas zu ermitteln, wenn sofort mit der Verbrauchsreduzierung begonnen werde und die steigenden Preise frühzeitig auf die Verbraucher einwirken würden. Das Resultat der Untersuchung weist eine weite Spanne auf: Im besten Fall könnte der Verbrauch von Erdgas zum Ende dieses Jahres um knapp 33 Prozent sinken – im schlechtesten Szenario nur um rund 16 Prozent. Im Moment sieht es so aus, als ob sich Deutschland mit einem Jahreseinsparvolumen eher bei 16 Prozent auf der untersten Stufe der Berechnungen wiederfindet – die Preise sind noch nicht beim Endverbraucher angekommen.
Gerade einmal 18 Prozent der deutschen Haushalte haben nach einer Umfrage des Düsseldorfer Marktforschungsinstituts Innofact bislang ihre Heizkostennachzahlung erhalten. Das böse Erwachen steht erst noch bevor.
Dass die Politik versucht, den Menschen angesichts der Preisexplosion zu helfen, kann Axel Wambach nachvollziehen. Der Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sieht eine Gefährdung des sozialen Friedens durchaus als reale Gefahr. „Man sollte aber konsequenter trennen“, sagt er. Über die Energiepolitik müssten die Preise wirken und über die Sozialpolitik müssten Hilfen und Entlastungen erfolgen.
Auch der Energieexperte des IW in Köln, Malte Küper, sieht eine verzögerte Reaktion bei den Verbrauchern. „Die derzeitigen Preise für Gas bieten bereits einen großen Anreiz dazu, Gas einzusparen. Problematisch ist aber, dass die hohen Preise bei den Haushalten größtenteils noch nicht angekommen sind“, meint Küper. „Dadurch wissen viele Verbraucher einerseits noch nicht, was genau auf sie zukommt, die Preiserhöhung kommen später mit voller Wucht“. Zum anderen komme das „so wichtige Signal, Gas einzusparen, nicht vollständig bei den Haushalten an“, sagt der IW-Experte. Man hätte bereits mehr Gas einsparen können. „Mit Blick auf den kommenden Winter zählt schon jetzt jede Kilowattstunde.“
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