Bundestagwahl 2021

Vergesst die Umfragen!

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Eine Welt ohne Meinungsumfragen ist kontrafaktisch

Die Zahlen der Meinungsforscher diktieren also politische Verhaltensweisen, Entscheidungen, Kampagnen. Aber das ist noch nicht alles. Sie etablieren auch, vermittelt und verstärkt durch die Medien, einen zahlenhaft-tabellarischen Blick auf das politische Geschehen. Sie begünstigen numerische Logiken des Gewinnens und Verlierens. Reproduzieren binäre Frage- (und Front-)stellungen nach dem Ja-Nein- und Wahr-Falsch-Prinzip. Und laden die politischen Wettbewerber ein zur entstellenden Verschlagwortung ihrer politischen Botschaften im Sinne von „Punkten“, die sie unbedingt setzen wollen.

Die Folge: Die diskursive Praxis wird ersetzt durch konfrontative Setzungen; Narrationen büßen Kohärenz und Überzeugungskraft ein; Gründe, Argumente und Zusammenhänge verlieren an Bedeutung gegenüber überwältigenden Meinungen, rhetorischen Siegen, günstigen Erscheinungsbildern – mehr doxa, weniger episteme.

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An dieser Stelle ist vor allem Selbstkritik angebracht. Eine Welt ohne Meinungsumfragen ist kontrafaktisch, es gibt sie nicht und es wird sie nicht geben. Also ist es vor allem an den Politikern und (professionellen) Politikbeobachtern, mit den demoskopischen Trendsetzungen und Entstellungen verantwortungsvoll umzugehen. Ihnen wächst die Aufgabe zu, die Sportifizierung der Demokratie zu konterkarieren, den allzu zügig voranschreitenden Umbau der Agora zur Arena zu hintertreiben. Und genau das ist in diesem Wahlkampf nicht gelungen – vielleicht am wenigsten uns Journalisten.

Die sinnfreien Fragen nach Koalitionen und Machtoptionen. Das permanente Übergewichten des Augenblicklichen (Flut! Afghanistan! 2G-Regeln!). Das skandalisierende Aufblähen marginaler persönlicher Lässlichkeiten (Laschets Lachen, Baerbocks Buch). Das recherchefrei-reizwortreiche Beraunen potenziell schwerwiegender Vergehen und Versäumnisse (Wirecard, CumEx, Warburg). Die hochnotpeinlichen Binär-Befragungen im Wahl-o-Mat-Bot-Stil („Also sind Sie für Enteignungen?!“, „Also wollen Sie raus aus der Nato?!“, „Also wollen sie keinen Mindestlohn?!“, „Also wollen Sie vor allem die Reichen entlasten?!“ „Also schließen Sie kein Linksbündnis aus?!“) – wir Medien täten verdammt gut daran, uns nicht davonkommen zu lassen mit der selbstgewählten Überbetonung dieser Art von Nicht-Journalismus.

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Unsere Aufgabe besteht auch nicht darin, aktivistisch Partei zu ergreifen – etwa für ein Meta- oder Mega-Thema, das wir zur Menschheitsaufgabe oder auch nur zur „sozialen Frage unserer Zeit“ erklären, um Politikerinnen vor allem daran zu messen: Die politische Adressierung von Staatsschulden ist nicht unbedingt weniger nachhaltig als die ein oder andere Maßnahme zur Bekämpfung der Klimakrise – und schon gar nicht ist das Nachdenken über den Rentenzuschuss nicht  nachrangig gegenüber den Sorgen um steigende Mietpreise.

Stattdessen bestünde unsere nur scheinbar paradoxe Aufgabe darin, Politikern künftig mehr Räume im Wege des „journalistischen Gegenpressings“ zu eröffnen, um Zuschauern und Lesern die Kohärenz und Widersprüchlichkeit ihrer politischen Programme, Entwürfe und Ideen in möglichst großer Klarheit vor Augen zu führen: Kaltneutraler Hard Talk sozusagen statt leicht parierbare Scheinkritik, gut vorbereitete Interviews statt Augenblicksabfragen zur Distribution hohler Marktplatzformeln.

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