Das deutsche Straßendilemma Wir fahren auf einem Haufen Schrott

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„Wir Leverkusener haben immer nur den Mist abbekommen,..."

Am Ende ziehen sie enttäuscht von dannen, die Ministerpräsidentin, die den Kontakt zum Volk für gewöhnlich so schätzt, hat sich diese Konfrontation erspart. „Wir Leverkusener haben immer nur den Mist abbekommen, sodass man irgendwann wohl gedacht hat, mit denen kann man auch alles machen“, sagt eine der Pfeiferinnen, die sich als Bewohnerin eines der nahe liegenden Arbeiterhäuser ausgibt, „wir wollen jetzt, dass man auch mal an uns denkt.“

Wer den Stadtplan Leverkusens betrachtet, dem erscheinen solche Aussagen unmittelbar plausibel, auch ohne größere Ortskenntnis. Eigentlich gibt es nicht ein Leverkusen, sondern acht verschiedene, getrennt durch die Mauern der Mobilität. Von Ost nach West zerschneidet die A 1 in zwei nahezu gleich große Teile, die wiederum in jeweils vier Abschnitte geteilt sind durch die Zugstrecke Düsseldorf–Köln, die Autobahn 3 und die Gütermagistrale Rotterdam–
Basel. Und auf keiner dieser Trassen rauscht der Verkehr von oder nach Leverkusen, sondern immer nur mitten durch. Eine der Autobahnen führt gar auf Stelzen durch die Stadt, fast als wolle man sicherstellen, dass der monotone Lärm auch wirklich keinem entgeht. Im Vergleich zu dieser Belastung ist der Protest geradezu zurückhaltend. Und genau das ist wohl das Problem der Demonstranten.

Denn das deutsche Recht sieht ein Mittel vor, um Bürgersorgen zu berücksichtigen: Für jedes größere staatliche Bauprojekt braucht es ein Planfeststellungsverfahren, das alle Interessen gegeneinander abwägen soll. In Leverkusen wurden also verschiedene Brückenvarianten geprüft und auch ein Tunnel, doch am Ende stand: Die Brücke, so wie sie jetzt da steht, ist die beste Variante. So ganz glauben mag das in der Stadt keiner, vor allem seit man sich die Geschichte aus dem Wahlkreis des zuständigen Bundesministers erzählt, Alexander Dobrindt (CSU).

Protest gewinnt – wenn er laut ist

Bürgerbeteiligung ist eines dieser Zauberwörter, um die sich die Politik in den vergangenen Jahren sehr bemüht hat. Sie leiden unter Politikverdrossenheit? Probieren Sie es mal mit etwas mehr Bürgerbeteiligung. Das hat insofern tatsächlich gut funktioniert, als es inzwischen viele Bürgerentscheide gibt und manche Konflikte danach tatsächlich friedlicher zu Ende gehen. Es hat die Politik aber auch mit einer Angst vor dem Bürger ausgestattet. Denn so leicht sich die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung ausspricht, so unangenehm kann eine verlorene Abstimmung sein. Je lauter die Bürger also protestieren, desto größer ist die Chance, dass die Politik ihnen nachgibt, um eine Niederlage zu vermeiden. Das aber hat den Nutzen der Bürgerbeteiligung auf den Kopf gestellt. Das Mittel, gedacht zur Objektivierung der Entscheidungsfindung, hat sie willkürlicher gemacht. Denn es wird nicht mehr abgewogen, wie begründet der Bürgerwille ist – sondern allein nach taktischem Kalkül entschieden: Wie laut ist der Protest?

Das große Sanierungsprogramm der deutschen Infrastruktur ist deshalb auch ein Prüfstein dafür, wie weit dieser Siegeszug der politischen Taktik über die juristische Objektivität bereits fortgeschritten ist. Die Geschichte, die sie sich dazu in Leverkusen erzählen, geht wie folgt:

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