Freytags-Frage
Quelle: dpa

Können die Unterschiede zwischen Ost und West überwunden werden?

Die Stimmung unter den Ostdeutschen ist widersprüchlich – die eine Hälfte zeigt sich zufrieden, die andere fühlt sich als Bürger zweiter Klasse. Das lässt sich nicht nur mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen verbessern.

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Am Mittwoch dieser Woche hat Staatssekretär Christian Hirte, der Beauftragte der Bundesregierung für die Neuen Länder, den Bericht zur Deutschen Einheit 2019 vorgestellt. Er kommt zum Urteil, dass die Lage der Neuen Länder wesentlich besser als die Stimmung ist. Während die Aufholleistung beachtlich ist, fühlen sich offenbar über die Hälfte der Bürger in den Neuen Ländern als Bürger zweiter Klasse, während in der gleichen Umfrage die überwiegende Mehrheit sich zufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Lage und optimistisch mit Blick auf die Zukunft zeigt. Dies ist in der Tat ein schwer auflösbarer Widerspruch.

Der Staatssekretär verweist in dem Bericht auf die enorme Aufholleistung der Neuen Länder, die vor genau dreißig Jahren eine deutliche Produktivitätslücke zum Westen aufwiesen, diese aber zu einem Großteil aufgeholt haben. Die durchschnittlichen Löhne und Gehälter in den Neuen Ländern liegen bei etwa 85 Prozent des Niveaus der Alten Bundesländer. Gleichzeitig gibt der Bericht zu bedenken, dass die Lebenshaltungskosten in den Neuen Ländern zum Teil deutlich unter denen im Westen liegen. Die realen Einkommensunterschiede seien deshalb deutlich geringer als die gemessenen 15 Prozent durchschnittlicher Gehaltsdifferenz.

Richtig ist aber auch, dass die restliche Lücke sehr langsam geschlossen wird; viele Prognosen, so auch vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle, kommen zu diesem Schluss. Mit einer vollständigen Angleichung der Produktivität und der Gehälter sei noch lange nicht zu rechnen.

Dies hat seine Ursache erstens im Erbe der DDR-Wirtschaft und zweitens in verschiedenen Entwicklungen seit der Wende. Zum Erbe der DDR-Wirtschaft muss zunächst festgehalten werden, dass im Herbst 1989 die durchschnittliche Produktivität bei etwas über einem Drittel des Westens lag, und das trotz gut ausgebildeter Fachkräfte. Dadurch, dass die Produktion politisch bestimmt war und sich nicht nach den Märkten (und den dahinter stehenden Präferenzen der Menschen) richtete, wurden Knappheiten nicht berücksichtigt und Innovationen vernachlässigt. Der Kapitalbestand wurde zudem nicht entsprechend gewartet – ein Problem des Kollektiveigentums, für das sich naturgemäß niemand zuständig fühlt. Dies erklärt auch die Schwierigkeiten der Treuhandanstalt, die ostdeutschen Betriebe nach der Wende so zu verwerten, dass viele Arbeitsplätze gerettet werden konnten. Erfreulicherweise hat der Staatsekretär eine klare Position zur Rolle der Treuhandanstalt – man könne ihr nicht vorwerfen, die Ostdeutschen verraten zu haben. Er schließt jedoch nicht aus, dass in Einzelfällen optimale Verkaufsergebnisse verfehlt wurden oder gar kriminell gehandelt wurde.

Aber auch seit der Wende hat es ungünstige Entwicklungen gegeben, für die wiederum kaum Schuldige zu finden sind. Erstens ist die Zahl der Konzernzentralen im Osten weiterhin sehr gering – 464 der 500 größten Unternehmen haben ihre Zentralen in Westdeutschland. Dort – und nicht in Ostdeutschland – arbeiten viele gut bezahlte Menschen.

Die Hallenser Wissenschaftler haben zudem gezeigt, dass im Osten zu unproduktive Unternehmen subventioniert wurden. Die Ansiedlungspolitik hat es bisher nicht vermocht, hochproduktive Firmen zur Ansiedlung zu bewegen. Viele Arbeitsplätze sind in der Logistik-Branche entstanden, die Menschen zu relativ niedrigen Löhnen (vermutlich knapp oberhalb des Mindestlohn-Niveaus) einstellten, während gleichzeitig viele sehr gut qualifizierte Fachkräfte auf der Suche nach höheren Löhnen nach der Wende abgewandert sind. Es wäre also nötig, Unternehmen anzusiedeln, die hochqualifizierte Arbeitskräfte benötigen und hohe Gehälter zahlen können.

von Sven Böll, Max Haerder, Dominik Reintjes, Cordula Tutt

Das führt zum dritten Problem: Es besteht ein Fachkräftemangel. Dies ist kein rein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Problem. Im Osten ist es dadurch verstärkt worden, dass nach der Wende viele produktive Arbeitnehmer in die Alten Länder abwanderten. Im Moment gibt es zwar einen positiven Wanderungssaldo für die Neuen Länder, er reicht aber nicht aus. Hier rät die erwähnte Hallenser Studie dazu, ausländische Fachkräfte anzuwerben. Dies wiederum wird durch die angesprochene Unzufriedenheit und deren Konsequenz an den Wahlurnen konterkariert. Denn die hohen Stimmengewinne für die sogenannte Alternative für Deutschland (AfD) führen wegen der immer deutlicher zutage tretenden Radikalität und Fremdenfeindlichkeit dieser Partei zum Standortnachteil des Ostens. Fremdenfeindliche Stimmungen sorgen nicht dafür, dass ausländische Arbeitnehmer gerne kommen. Bleiben die Arbeitskräfte – und im gleichen Sog auch die Direktinvestitionen – aus, schwächelt die Wirtschaft, und die Unzufriedenheit dürfte eher weiter steigen. Ein Teufelskreis.

Dennoch ist ein zu starker Pessimismus nicht angesagt. Denn es gibt positive Beispiele. Im Moment wird in der deutschen Presse wieder Jena als ein positives Beispiel für erfolgreichen Strukturwandel und eine dynamische Entwicklung genannt. Aber auch andere Städte wie Potsdam, Leipzig oder Dresden sind Leuchttürme. Die Städte wirken zudem als Zentren für eine ganze Region.

In Jena versucht man gegenwärtig, den benachbarten Landkreis mit der Stadt zu verknüpfen. Der Verkehr kann besser ausgerichtet, das Schulnetz angepasst werden. Die sehr ländliche Struktur in vielen ostdeutschen Regionen ist im Übrigen laut IWH-Gutachten ein weiterer Grund für geringere Produktivität. Gelingt es, die Räume besser zu verknüpfen, steigt auch die Produktivität.

Dies sind zunächst vor allem wirtschaftspolitische Überlegungen. Sie reichen nicht aus, die generelle Unzufriedenheit vieler Menschen im Osten zu beseitigen. Ohnehin scheint es so zu sein, dass die Unzufriedenheit politisch stark geschürt wird, und zwar nicht nur von der AfD. Auch die andere populistische Partei, die Linke, hat im Grunde dreißig Jahre lang die These der ungerechten Behandlung des Ostens vorgetragen. Dies ist natürlich nicht die einzige Ursache für das tief sitzende Gefühl der Benachteiligung, dürfte aber erheblich dazu beigetragen haben. Es mag zwar politisch attraktiv sein, Unzufriedenheit zu schüren und so Stimmen zu gewinnen. Es spaltet aber das Land. Und inzwischen wenden sich viele Wähler in Ostdeutschland der Partei zu, die dieses Spiel mit der Unzufriedenheit offenbar noch besser beherrscht. Es wäre wichtig, dass sich die Linke ihrer Verantwortung hier stellt.

Was viele Bürger offenbar vermissen, ist die Anerkennung ihrer Lebensleistung und der enormen Anpassungslast, die die Wende mit sich brachte. Diese Last ist zwar selbst verursacht (denn die DDR-Bürger unternahmen die friedliche Revolution ohne westliche Hilfe), ist aber in der Begeisterung über die Wiedervereinigung sicher unterschätzt worden und wird zu selten von der gesamtdeutschen Politik gewürdigt. Hier besteht sicherlich noch Nachholbedarf. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass der Ostbeauftragte auf die großartige Aufholleistung in den Neuen Ländern hinweist – darauf kann man durchaus stolz sein. Die Bundesregierung sollte den Bericht zur Deutschen Einheit 2019 allerdings nur als Start zu einer besseren Bewältigung der Nachwendelasten sehne – nicht als ihr Ende.

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