Der kommende Bundestagswahlkampf wird sich wohl vor allem um das Thema Gerechtigkeit drehen. Nahezu sämtliche Parteien, die sich Chance auf den Einzug in den Bundestag ausrechnen, schreiben sich auf die Fahnen, gegen die grassierende Ungerechtigkeit in der Republik den richtigen Plan zu haben. Die Talkshows sind voller Experten darüber und präsentieren immer wieder lebende Beispiele für die mangelnde Gerechtigkeit unserer Gesellschaft. SPD-Chef Martin Schulz hat das Thema sogar zum Schwerpunkt seines Wahlkampfes gemacht.
Leider macht sich kaum jemand, so auch nicht Schulz, die Mühe, eine präzise Definition dessen, was gerecht ist, anzubieten. Das liegt erstens daran, dass es sehr schwer ist, Gerechtigkeit eindeutig zu fassen. Mindestens drei – in ihren Konsequenzen stark abweichende- Definitionen werden üblicherweise unterschieden.
Reden wir über Leistungsgerechtigkeit, also darüber, dass unterschiedliche Leistungen unterschiedlich zu entlohnen sei? Wenn ja, wie misst man den Lohn für Leistung? Ist die Leistung eines Vorstandsvorsitzenden 95mal so viel wert wie die eines Arbeiters im selben Unternehmen? Ist der Wert eines Gutes oder einer Dienstleistung immer der Marktwert?
Oder geht es um Verteilungsgerechtigkeit? Ist die Welt nur gerecht, wenn alle eine gleiche materielle Ausstattung besitzen? Was ist dann mit Menschen, die nicht viel brauchen? Müssen alle anderen dann darauf verzichten? Wie stellt man solche Gerechtigkeit her? Muss man den Erben alles nehmen, was ihre Eltern und Großeltern angespart haben? Würde sich es in diesem Fall überhaupt lohnen, langfristig zu denken?
Oder sollten wir es besser mit Startgerechtigkeit versuchen? In diesem Fall muss sichergestellt werden, dass alle Menschen eine umfassende Bildung und eine gute Gesundheitsversorgung erhalten. Danach, so die Überlegung aus dieser Sicht, kann man davon ausgehen, dass jeder Mensch das Beste aus seinen Möglichkeiten machen wird und dass das Ergebnis dadurch auch gerecht ist.
In der Realität dürfte den meisten Menschen eine Mischung aller dieser Reinformen, die die jeweiligen Vorteile heraushebt und die Nachteile möglichst unterdrückt, am ehesten gefallen.
Der zweite Grund, warum es an genaueren Festlegungen in der Politik fehlt, ist vermutlich der Wunsch, möglichst unbestimmt zu bleiben und großen diskretionären Spielraum für die praktische Politik zu behalten. Man stelle sich vor, man einigt sich auf eine genaue Definition der Startgerechtigkeit und tut dann alles, um sie einzulösen. Wenn dann ein Resultat des gesellschaftlichen Prozesses der Regierung nicht gefiele – weil zum Beispiel eine bestimmte Region im Wettbewerbsprozess verliert, obwohl die dortigen Bewohner die gleichen Startchancen hatten wie alle anderen –, hätte die Regierung keine Handhabe mehr einzugreifen.
Bevölkerung wird zu Opfern gemacht
Eine unpräzise Vorstellung von Gerechtigkeit ergibt weit mehr Möglichkeiten für ad-hoc-Politiken zum Wohl bestimmter Gruppen, die dann als Wähler der Regierung wohlgesonnen sind. Vor allem kann man sich ständig neuen Ungerechtigkeiten widmen, die es zu beseitigen gilt. Manche versuchen es so weit zu treiben, bis niemand mehr das Gefühl hat, es ginge ihr oder ihm gut. So geht zum Beispiel Sarah Wagenknecht in ihrem Buch „Reichtum ohne Gier“ vor, in dem sie die heutige Zeit mit dem Feudalismus vergleicht und implizit die gesamte Bevölkerung (mit Ausnahme einzelner Milliardäre) für Opfer erklärt. Opfer kann man dann versorgen und bevormunden. Anders gewendet: Je mehr man den Menschen einredet, sie seien Opfer von Ungerechtigkeiten, desto eher kann man sie – natürlich nur zu ihrem Besten – unterdrücken.
Die Hartz-Reformen
Die von dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingesetzte Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung von Peter Hartz legte im August 2002 das Hartz-Konzept vor.
Die Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes wurden vier Maßnahmen eingeteilt: Hartz I bis IV.
Das Erste Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt trat am 1. Januar 2003 in Kraft.
Ziel waren die Erleichterungen von neuen Formen der Arbeit und die Förderung der beruflichen Weiterbildung durch die Arbeitsagenturen. Hierfür wurden unter anderem Bildungsgutscheine verteilt. Zudem wurde ein Unterhaltsgeld, gezahlt durch die Arbeitsagentur eingeführt und die Einstellung von Zeitarbeitern erleichtert.
Auch die Zumutbarkeitsregelung wurde aufgeweicht. So mussten Arbeitslose ohne familiäre Bindung fortan ab dem vierten Monat der Arbeitslosigkeit bundesweit für Jobs zur Verfügung stehen.
Der Druck auf die Arbeitslosen wurde weiter erhöht, etwa durch eine Kürzung der Arbeitslosenhilfe und einer Meldepflicht für Arbeitslose. Demnach müssen sich Arbeitnehmer bereits mit Erhalt der Kündigung arbeitssuchend melden. Wer dagegen verstößt, muss mit einer Absenkung des Arbeitslosengelds rechnen.
Das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt trat ebenfalls am 1. Januar 2003 in Kraft.
Hierbei ging es hauptsächlich um die Regelung der geringfügigen Beschäftigung – der sogenannten Mini- und Midijobs. Weitere Aspekte, die mit Hartz II entstanden, waren die Ich-AGs und die Einrichtung von Jobcentern.
Mit der Hartz-II-Reform wurde die Geringfügigkeitsschwelle für Mini-Jobs von 325 Euro auf 400 Euro im Monat erhöht (aktuell liegt sie bei 450 Euro). Innerhalb dieser Grenze fallen für den Arbeitnehmer keine Steuern an, er zahlt auch keine Sozialversicherungsbeiträge. Bei den Midijobs (Einkommen von 400 Euro bis 800 Euro) gibt es ansteigende Arbeitnehmerbeträge zur Sozialversicherung; Arbeitgeber zahlen den vollen Beitragssatz.
Im wesentlichen Teilen war das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ab Januar 2004 gültig.
Mit Hartz III wurde das Arbeitsamt zur „Agentur für Arbeit“ umstrukturiert. Ein Kernpunkt dabei war die Einführung von Zielvereinbarung, die die einzelnen Agenturen erfüllen mussten. Wie diese Ziele erreicht wurden, blieb weitestgehend den einzelnen Agenturen überlassen.
Die Verwaltung auf Landesebene wurde abgeschafft. Stattdessen wurden sogenannte Job-Center geschaffen, die als zentrale Anlaufstelle für Arbeitslose dienen sollten. Zuvor mussten sie sich beim Sozialamt und beim Arbeitsamt melden.
Mit den Jobcentern wurden auch die Fallmanager eingeführt, die sich um die Langzeitarbeitslose kümmern sollen.
Die tiefgreifendste der vier Reformen, das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – Hartz IV – trat wesentlich im Januar 2005 in Kraft.
Mit Hartz IV wurde die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zu Arbeitslosengeld II zusammengeführt. Die Arbeitslosenhilfe wurde komplett abgeschafft; die Sozialhilfe beziehen nur noch nicht erwerbsfähige Arbeitslose. Für die Verwaltung des Arbeitslosengelds II ist die Agentur für Arbeit zuständig.
Das bisherige Arbeitslosengeld – also die Leistung, die Arbeitslose durch ihre vormaligen Einzahlungen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung erwarben – hieß ab 2005 Arbeitslosengeld I. Wer arbeitslos ist und zuvor mindestens zwölf Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, erhält 60 Prozent seiner vorherigen Lohns (mit Kind: 67 Prozent). Es kann in der Regel nur für ein Jahr bezogen werden. Nach Ablauf des Arbeitslosengelds I, wird das vom bisherigen Lohn unabhängige Arbeitslosengeld II gezahlt. Ab dem Januar 2015 beträgt der Regelbedarf für einen Alleinstehenden 399 Euro – kann je nach Vermögen aber deutlich geringer ausfallen.
Deshalb macht die ganze Debatte um Gerechtigkeit nur dann Sinn, wenn man tatsächlich Kategorien und Maßstäbe von Gerechtigkeit definieren kann. Nur dann kann man auch überprüfen, ob und inwieweit eine Regierung einen erfolgreichen Kampf gegen Ungerechtigkeit führt. Es lohnt sich aber auch deshalb, weil dann die Regierung ein wirklich erstrebenswertes Ziel verfolgen kann. Dies gilt vor allem dann, wenn in einem zweiten Schritt der Versuch gestartet wird, gesellschaftlichen Konsens über die Inhalte einer gerechten Gesellschaft zu erzielen. Dies wäre vergleichbar mit der Aufgabe, eine Verfassung zu erarbeiten, die ja im Grunde nichts weiter ist als die Sammlung sämtlicher Regeln, die die Gesellschaft für menschlich und fair hält.
Vor diesem Hintergrund verdient die Partei im nächsten Halbjahr den meisten Zuspruch, die es schafft eine Diskussion über das Set an als fair angesehenen Regeln gesellschaftlichen Lebens in Gang und idealer Weise zum Abschluss zu bringen. Gerechtigkeit in diesem Sinne kann somit keine Einzelfallgerechtigkeit sein, sondern muss auf die Sinnhaftigkeit der Regeln und Gesetze abstellen. Der Fokus auf einzelne soziale Leistungen und die Reichensteuer allein kann da nicht weiterhelfen. Es wird ein ganzes Bündel zu liefern sein.