Wo immer Christine Lagarde in diesen Wochen öffentlich auftritt, hat sie eine zentrale Botschaft im Gepäck: Die Europäische Zentralbank (EZB), so verspricht die EZB-Chefin, werde alles tun, um die Inflation wieder auf den Zielwert von zwei Prozent zu senken. Je früher das gelinge, „desto besser“, so Lagarde. Doch der Weg bis zum Zwei-Prozent-Ziel ist noch weit – und es ist fraglich, ob die EZB ihr Ziel nachhaltig erreicht.
Im Mai lag die Inflation im Euroraum bei 6,1 Prozent, weit über dem Zwei-Prozent-Ziel. Das gibt den Falken im Rat der EZB, die sich für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik einsetzen, Auftrieb. Daher dürften die Notenbanker an diesem Donnerstag die Leitzinsen um weitere 25 Basispunkte anheben. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf lange Sicht die Tauben, also die Vertreter einer lockeren Geldpolitik, in der EZB die Oberhand behalten dürften. Vier Gründe sprechen für eine langfristig zu lockere Geldpolitik und damit dauerhaft höhere Inflation.
Erstens dürfte die Finanzmarktstabilität für die Geldpolitik der EZB an Bedeutung gewinnen. Denn die lange Niedrigzinsphase seit der globalen Finanzkrise bis Mitte 2022 hat die Banken zu höheren Risiken verleitet, die nun mit den Zinserhöhungen sichtbar werden. In den USA haben bereits Bewertungsverluste bei Staatsanleihen nicht nur die Silicon Valley Bank zur Strecke gebracht. Steigende Zinsen und fallende Preise bei Gewerbeimmobilien könnten noch vielen Finanzinstitutionen schmerzhafte Kreditausfälle bescheren.
Über die Autoren
Gunther Schnabl ist Professor für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig und leitet dort das Institut für Wirtschaftspolitik.
Tom Bugdalle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig.
Zwar hat die europäische Finanzmarktaufsicht die Banken seit der zurückliegenden Finanzkrise zu größeren Eigenkapitalpuffern gedrängt, doch sind die Risiken ähnlich. Die Staatsanleihen in den Bilanzen der Banken verlieren mit jeder Zinserhöhung an Wert. Die Verluste werden realisiert, wenn die Anleihen verkauft werden müssen. Das lange Zeit starke Wachstum der Immobilienkredite könnte auch im Euroraum nicht ohne Folgen bleiben. Steigende Zinsen und Baukosten haben das einst lukrative Immobilienkreditgeschäft bereits abrupt ausgebremst.
Hohe Staatsschulden
Zweitens schwebt das Damoklesschwert der Staatsverschuldung über der EZB, die Staatsanleihen im Gegenwert von rund 4.000 Milliarden Euro gekauft hat. Im Jahr 2022 lag in Italien die Staatsverschuldung bei 144 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Spanien bei 113 Prozent und in Frankreich bei 112 Prozent. Zwar sind die Laufzeiten der ausstehenden Anleihen überwiegend langfristig, weshalb kein plötzlicher Anstieg der Zinsbelastungen zu erwarten ist, doch schwächt die Inflation Konsum und Investitionen, so dass Steuerausfälle drohen. Bald könnten neue Lücken in den Budgets vieler Euroländer klaffen.
Darüber hinaus treiben die EU und die nationalen Regierungen durch umfangreiche Verordnungen die Klimarettung voran. Die kostspieligen Vorhaben werden nicht nur in Deutschland umfangreiche zusätzliche Staatsausgaben nötig machen, deren Finanzierung ungeklärt ist. Auch die Lasten für die Sozialsysteme könnten steigen, da die Inflation, schwaches Wachstum und sinkende Reallöhne die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten schwinden lassen. Der Druck auf die EZB, die Staatsanleihekäufe wieder aufzunehmen, dürfte damit weiterhin hoch bleiben.
Klimarettung mit der Notenpresse
Drittens will die EZB – im Gegensatz zur US-amerikanischen Federal Reserve und der Schweizer Nationalbank – in Form einer grünen Geldpolitik die Klimarettung selbst in die Hand nehmen. Sie hat mit den Banken Klimastresstests gemacht und schichtet die von ihr gehaltenen Unternehmensanleihen zugunsten umweltfreundlicher Unternehmen um. EZB-Ratsmitglied Frank Elderson will sogar die Banken „mit Zuckerbrot und Peitsche“ in den Schutz der Biodiversität einbeziehen.
Nachdem der EZB bei ihrer Gründung die Aufgabe, die Preise stabil zu halten, anvertraut wurde, ist sie seit 2014 auch für die Finanzmarktaufsicht verantwortlich. Nun macht die EZB auch Klima- und Umweltpolitik. Denkbar ist auch, dass die EZB in der Zukunft zinsgünstig Investitionen finanziert, die die Europäische Kommission im Rahmen der Taxonomie als klima- beziehungsweise umweltfreundlich eingestuft hat. Schließlich könnte sich die EZB auch an den zunehmend kostspieligen Sozialpolitiken beteiligen. Je mehr Aufgaben die EZB an sich zieht, desto mehr tritt das einst vorrangige Ziel der Preisstabilität in den Hintergrund.
Instabiler Währungsraum
Viertens ist der Euroraum seit seiner Geburt inhärent instabil, da einer einheitlichen Geldpolitik 20 weitgehend unabhängige Finanz- und Sozialpolitiken gegenüberstehen. Unterschiedlich ausgerichtete Finanzpolitiken haben zwischen 2003 und 2007 Spekulationsblasen im Süden der Währungsunion befeuert, die in die europäische Finanz- und Schuldenkrise mündeten. Die EZB musste mit anhaltend niedrigen Zinsen, umfangreichen Ankäufen von Staatsanleihen und großzügigen Hilfskrediten den Süden retten, ohne dass die Probleme gelöst (sondern eher verstetigt) wurden.
Im derzeitigen Umfeld der geldpolitischen Straffung tragen das sogenannte Transmissionsschutzprogramm, der nur zögerliche Abbau der Anleihen in der Bilanz der EZB sowie die Umschichtung von Staatsanleihen im Bestand der EZB zugunsten von Italien und Spanien zur Stabilisierung des Euros bei. Die EU entlastet die EZB, indem sie dem Süden mit dem 807 Milliarden Euro schweren Aufbau- und Resilienzprogramm „NextGenerationEU“ unter die Arme greift. Das Programm wird über EU-Anleihen finanziert, die auch von der EZB gekauft werden können.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Die sehr unterschiedlichen Inflationsraten im Euroraum, die 2022 zwischen 5,9 Prozent in Frankreich und 19,4 Prozent in Estland lagen, signalisieren, dass die beträchtliche Heterogenität im Euroraum eher noch größer als kleiner wird, fortan auch bedingt durch die unterschiedlichen Lohnpolitiken. Denn die Lohnerhöhungen lagen 2022 zwischen 1,5 Prozent in Österreich und 8,7 Prozent in Litauen. Das deutet darauf hin, dass ohne anhaltend lockere Geldpolitik in Zukunft der Euroraum nicht zusammengehalten werden kann.
Da es für die EZB schwer ist, die wachsenden Unterschiede im Euroraum auszugleichen, dürfte wohl ein innereuropäischer Finanzausgleich notwendig werden. Da dieser teuer wäre und die Kassen der Nationalstaaten leer sind, liegt eine Finanzierung über EU-Anleihen nahe, die von der EZB gekauft werden. Die Geldpolitik der EZB würde dann auf europäischer Ebene der Geldpolitik der Banca d’Italia oder der Banque der France vor Eintritt in die Währungsunion ähnlich sein. Die Inflationsraten im Euroraum könnten sich auf einem Niveau zwischen vier und sechs Prozent einpendeln.
Der Anlass zum Übergang zu einer anhaltend lockeren Geldpolitik könnte eine neue drohende Finanzkrise sein. Der Nachteil der Finanzierung von Staatsausgaben durch Inflation ist, dass der Wohlstand weiter fallen und die Verteilungsungleichheit weiter steigen dürften. Die Auswirkungen dieses Szenarios auf die politische Stabilität in der EU sind ungewiss.
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