Sigmar Gabriel verzichtet auf SPD-Kanzlerkandidatur
Wer der Politik im Allgemeinen und einem Amt im Besonderen so etwas wie Würde verleihen will, wer Respekt gegenüber der eigenen Person und der Funktion einfordern will, der sorgt für eines: Berechenbarkeit. Selbst Donald Trump ist berechenbar, weil er derzeit genau das macht, was er stets angekündigt hat.
Der Vorsitzende der traditionsreichsten Partei Deutschlands, der SPD, ist es nicht. Sigmar Gabriel zeigt seiner Partei und allen Wählern in der Kanzlerkandidatenfrage die kalte Schulter. Oder unschöner ausgedrückt: den Stinkefinger.
Die, die schon länger dabei sind, denken an Oskar Lafontaine, der sich holterdiepolter von der Spitze verabschiedete und ins Saarland zurückzog.
Die Wechsel an der SPD-Spitze
Der Saarländer entreißt im November 1995 dem glücklosen Rudolf Scharping den Vorsitz in einer Kampfabstimmung. Nach dem SPD-Sieg bei der Bundestagswahl 1998 verschärfen sich die Gegensätze zu Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem Lafontaine als Kanzlerkandidat weichen musste. Außerdem ist von Differenzen in der Steuerpolitik die Rede. 2005 tritt Lafontaine aus der SPD aus. Heute ist er bei der Konkurrenz-Partei Die Linke.
Der SPD-Kanzler übernimmt im März 1999 von Lafontaine den Parteivorsitz. Schröders einschneidende Sozial- und Wirtschaftsreformen („Agenda 2010“) stoßen insbesondere beim linken Flügel und den Gewerkschaften auf Kritik. Unter ihm verliert die Partei mehr als 140.000 Mitglieder, mehrfach gibt es zweistellige Verluste bei Landtagswahlen.
Auf Schröder folgt im März 2004 der damalige Fraktionsvorsitzende Müntefering. Doch auch er kann weder Mitgliederschwund noch Wahlniederlagen stoppen. Als die Parteilinken seinen Vorschlag für den Posten des Generalsekretärs verwerfen, gibt er auf.
Der Ministerpräsident von Brandenburg setzt ab November 2005 auf klassische SPD-Positionen. Bei seinem Start gilt der Müntefering-Nachfolger als Hoffnungsträger. Bevor Platzeck Wegmarken setzen kann, tritt er völlig überraschend nach 146 Tagen aus gesundheitlichen Gründen zurück.
Im Mai 2006 übernimmt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident. Beck will mit der Abkehr von Teilen der Agenda-Politik das Profil der Partei wieder schärfen. Das ungeklärte Verhältnis zur Linkspartei und sein Zögern in der Frage der Kanzlerkandidatur beschleunigen seinen Abgang. Beck begründet seinen Rückzug mit internen Intrigen. Sein Nachfolger wird im Oktober 2008 Müntefering - zum zweiten Mal.
Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2009 und dem schlechtesten SPD-Ergebnis seit 1949 übernimmt der Umweltminister im November 2009 den Parteivorsitz. Zur Bundestagswahl 2013 lässt Gabriel dem ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück die Kanzlerkandidatur. Trotz des zweitschlechtesten Wahlergebnisses wackelt Gabriels Stuhl nicht.
Klar, Gabriel hat nie gesagt, dass er es macht. Aber er hat auch zu keiner Sekunde angedeutet, dass er sich nicht für geeignet hält. Im Gegenteil. Bei jeder Debatte hat Gabriel die Deutungshoheit für sich reklamiert: Von der inneren Sicherheit bis zum Umgang mit den USA, Russland oder der Türkei - Gabriel schwang stets das große Wort, auch wenn ihn diese Themen als amtierenden Wirtschaftsminister eigentlich nur am Rand interessieren mussten.
Das Signal, das er aussendete, war unmissverständlich: Hier ist einer, der kann das.
Und nun die Absage. Nach dem Abtauchen von Oskar Lafontaine, nach dem politischen Meuchelmord an Gerhard Schröder, nach der halbherzigen Entscheidung für Peer Steinbrück ist es der SPD wieder nicht gelungen, einen Kanzlerkandidaten unfallfrei aufs Schild zu heben.
Es mag ja sein, dass bis zum Wahltag am 24. September noch viel Wasser den Rhein, die Donau und die Spree hinabfließt und einen neuen Mann wie Martin Schulz nach oben spült.
Aber im Gedächtnis der Wähler, Parteimitglieder und Genossen verbindet sich mit der Entscheidung ihres Vorsitzenden ab heute ein Gefühl. Es heißt: Enttäuschung. Und das schadet der Partei.