Kapitalismuskritiker Jean Ziegler "Wir leben in einer kannibalischen Welt"

Soziologe und Bestseller-Autor Jean Ziegler fürchtet, dass wir künftig in einer Gesellschaft leben, "in der der Stärkere gewinnt“. Die Eliten hätten sich vom Volk entfremdet, die Demokratie sei in Gefahr.

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Jean Ziegler Quelle: PR

WirtschaftsWoche: Herr Ziegler, Sie rufen dazu auf, die Welt zu ändern. Warum ist das nötig?

Jean Ziegler: Wir leben in einer neoliberalen, kannibalischen Welt. Die 500 größten multinationalen Konzerne haben im vergangenen Jahr 52,8 Prozent des Bruttoweltsozialproduktes kontrolliert. Gleichzeit wächst die Armut auf der Südhalbkugel. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Fast eine Milliarde Menschen sind unterernährt – und das auf einem Planeten, der reich ist und der allen gehört.

Nicht so schnell. Sie können Großunternehmen nicht für verfehlte Entwicklungspolitik oder Staatsversagen in fast ganz Afrika verantwortlich machen. Die Gründe sind vielfältig.

Es geht um soziale Kontrolle. Die Welt funktioniert nach dem Prinzip der Profitmaximierung. Und diese Ideologie hat sich durch alle Bereiche ihren Weg gebahnt: durch die Wirtschaft, die Politik, die Interessenverbände. Die Pseudo-Erkenntnis, dass die Ökonomie Naturgesetzen folgt und für breiten Wohlstand sorgt, wird kaum noch infrage gestellt. Weder in Europa, noch in den USA oder in Afrika. Das führt zu Diebstahl am Gemeinwesen.

Zur Person

„Diebstahl am Gemeinwesen“? Das müssen Sie erklären.

Die Welt gehört allen. Pierre-Joseph Proudhon schrieb 1846: „Eigentum ist Diebstahl.“ Da ist was Wahres dran! Ich finde auch, dass Jean-Jacques Rousseau Recht hatte mit der Feststellung, dass das Elend damit begonnen habe, als der erste Mensch einen Zaun um ein Stück Land gemacht hat. Schuldig sind all die, die zugeschaut haben, ohne zu sagen: Das geht nicht.

Jean Zieglers neues Buch

In Deutschland sind wir ganz froh, dass wir in einem kapitalistischen Land leben – und nicht in einer besitzlosen Gesellschaft wie die DDR es war, in der Korruption, Mangel und Unfreiheit herrschte.

Nein, nein, Sie verstehen mich falsch. Das ist kein Aufruf, die DDR wieder aufleben zu lassen. Ganz sicher nicht. Das war ein schreckliches Regime, ein Unrechtsstaat. Mein Punkt ist: Jeder ist total verschieden, dem müssen wir gerecht werden. Aber so, dass ein jeder die Chance hat, nach seinem individuellen Glück zu streben.

So wie es in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 steht.

Die amerikanischen Revolutionäre haben die erste und – wie ich finde – schönste Menschenrechtserklärung verfasst. Gleich die Präambel fordert das Recht zum Streben nach Glückseligkeit – „the pursuit of Happiness” – ein. Zu jener Zeit war das Recht des Menschen, sein Glück zu finden, eine reine Utopie. Denn: Die materiellen Güter reichten bei Weitem nicht aus, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Heute allerdings wäre die Utopie realisierbar.

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