„Knallharte Arbeit“ So kämpfen deutsche Regionen gegen das Abgehängtwerden

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Die verschuldeten Bremerhavener

In Norddeutschland gibt es ähnlich harte Arbeit zu erledigen: Der Zustand der Demografie oder der Infrastruktur macht Bremerhaven zwar nicht zu einer bedrohten Region. Die Hafenstadt an der Nordseeküste befindet sich vielmehr in einer wirtschaftlichen Schieflage: Nirgendwo sonst in Deutschland ist die Verschuldungsquote der privaten Haushalte höher. In Bremerhaven liegt sie bei 21,2 Prozent. Mehr als ein Fünftel der Bremerhavener Bürger ist somit überschuldet.

Die Studie des IW Köln verdeutlicht das: Die Region Bremerhaven erhält von den Forschern als einzige für diesen Indikator den Kriterienwert 1. „Wie prekär die private Schuldensituation in Bremerhaven ist, verdeutlicht der Umstand, dass außerhalb Bremerhavens nirgends ein Kriterienwert von 0,5 für diesen Indikator vergeben wurde“, heißt es in der Studie.

Wie auch im Spree-Neiße-Kreis drängt sich die Frage auf: Woran liegt das? Zum einen daran, dass nicht nur die privaten Haushalte verschuldet sind, sondern auch der Stadtstaat Bremen, zu dem Bremerhaven gehört. Kein anderes der 16 Bundesländer hat pro Kopf oder in Abhängigkeit des BIP so viele Schulden wie Bremen. 22 Milliarden waren es 2017, seit 2007 sind sie um knapp als 54 Prozent gestiegen. Ebenfalls negativer Spitzenwert zusammen mit dem Saarland.

„Gerade Bremerhaven hat eine sehr hohe Pendlerquote von fast 50 Prozent. Diese Pendler zahlen ihre Einkommenssteuer allerdings nicht in ihrem Arbeitsort Bremerhaven, sondern in ihrem Wohnort“, erklärt Olaf Orb, der stellvertretende Leiter der Abteilung Standortpolitik bei der Handelskammer Bremen. Dadurch fließe Bremerhaven und auch dem Stadtstaat Bremen vergleichsweise wenig Geld zu, mit dem Schulden abgebaut werden könnten. „Im unmittelbaren niedersächsischen Umfeld von Bremerhaven herrscht ein Stück weit heile Welt“, sagt Orb: „Niedrige Arbeitslosenquote unter dem Bundesdurchschnitt, kleine Schulklassen, gesunde Infrastruktur und viel Platz für Einfamilienhäuser.“

Zu lange auf den Fisch gesetzt

Und eine arme Stadt wie Bremerhaven ist sicherlich nicht der Traumstandort für Unternehmen, die für hochwertige Arbeitsplätze sorgen würden. Und hier findet sich dann auch ein Grund für die private Verschuldung: Die Arbeitslosenquote in Bremerhaven lag im Jahr 2005 bei mehr als 25 Prozent. Eine Folge von wegbrechenden Industrien – fast wie im Spree-Neiße-Kreis. „Bremerhaven wies bis in die späten 70er Jahre eine homogene Wirtschaftsstruktur auf und lebte beinahe ausschließlich von der Fischindustrie, der Hafenwirtschaft und den Werften“, erklärt Olaf Orb. „Bis auf die Hafenwirtschaft haben diese Branchen große Krisen samt erheblichen Arbeitsplatzverlusten durchlebt.“

Doch seitdem hat sich in Bremerhaven etwas getan: Heute liegt die Arbeitslosenquote nur noch bei 12,1 Prozent, auf dem niedrigsten Stand seit mehr als zwanzig Jahren. Damit liegt sie zwar immer noch deutlich über der durchschnittlichen Quote in Deutschland – doch immerhin scheinen die Maßnahmen der Stadt, Politik und verschiedener Unternehmen gefruchtet zu haben.

So besitze die Stadt mittlerweile eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur, sagt Stadtentwicklungsreferent Orb: Der Fokus ist vom Fisch stärker auf die Lebensmittelwirtschaft mit all ihren Facetten gerichtet worden.“ Hinzu kämen Energiewirtschaft und Tourismus. Rund um die Hochschule hätten sich „maritime Forschungseinrichtungen wie das Thünen-Institut oder das Alfred-Wegener-Institut angesiedelt, die stetig neue Jobs für Fachkräfte schaffen.“ Das Königsprojekt für eine wirtschaftsstrukturelle Industrie-Neuansiedlung in Bremerhaven fehle allerdings noch. Im vergangenen Jahr war es fast so weit. Doch Siemens Gamesa eröffnete eine riesige wie moderne Windturbinenfabrik im Juni 2018 für 200 Millionen Euro dann doch in Cuxhaven. Auch Bremerhaven hatte sich als Standort für die Fabrik ins Spiel gebracht.

Bremerhaven Quelle: imago images

Bei all den Erfolgen mit der Arbeitslosenquote: Die Verschuldung der privaten Haushalte bleibt schier unvergleichlich hoch. Deshalb soll auf die bisherigen Erfolge nun aufgebaut werden. Olaf Orb hat hierfür schon konkrete Vorstellungen: „Die Urbanität Bremerhavens müsste noch viel stärker herausgearbeitet und an die Menschen in der Ems-Weser-Region auch besser herangetragen werden. Denn mit rund 120.000 Einwohnern ist die Seestadt in der Region das einzige wirkliche Oberzentrum. Das muss genutzt werden.“

Außerdem könne sich die Stadt als möglicher Standort für Maschinen- und Anlagenbau sowie Technologieunternehmen der Green Economy profilieren. „Denn schwere Anlagen wie Windräder oder Kraftwerksturbinen aus dem Hinterland über das störanfällige Fernstraßennetz aufwändig an die Häfen zum Weiterversand zu liefern, erscheint mitunter wenig sinnvoll. Es bietet sich geradezu an, sie direkt vor Ort zu produzieren – und mit freien Gewerbeflächen eignet sich Bremerhaven dafür wunderbar“, erklärt Olaf Orb von der Handelskammer.

Auch wenn Bremerhaven und der Spree-Neiße-Kreis laut der IW-Studie bedroht sind, erfüllen sie den „akuten Handlungsbedarf“ und tun etwas. So sagt Olaf Orb: „Bremerhaven hat die Chance auf Wachstum. Für die Zukunft des Standorts bin ich durchaus optimistisch.“ Ob sein Optimismus berechtigt ist, wird sich zeigen. Spätestens dann, wenn das Institut der Deutschen Wirtschaft die Studie bald erneut durchführen würde.

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