Aufzufordern gehört zum Job des Bundespräsidenten. In Frank-Walter Steinmeiers Rede zum Tag der Deutschen Einheit war die zentrale, mehrfach wiederholte Forderung: „Wir müssen uns ehrlich machen“. Ehrlich in Sachen Zuwanderung und Integration. Doch er selbst ging nicht konsequent mit gutem Beispiel voran.
Die Formulierung ist für sich schon kritisierbar. Nicht nur weil sie stilistisch missraten und schwulstig ist. Wie Jan Fleischhauer vom Spiegel treffend schreibt, suggeriert Steinmeier nämlich, „man könne sich nachträglich in den Zustand der Ehrlichkeit versetzen, ohne darüber reden zu müssen, dass man es vorher nicht war.“ Soviel Kritik an der in Mainz versammelten Politprominenz und damit auch an sich selbst als seit 1998 mit vierjähriger Unterbrechung Mitregierendem gehört wohl offensichtlich doch nicht zur geforderten Ehrlichkeit.
Besonders beachtlich an Steinmeiers Rede war aber eine Forderung, die nicht nur die Unehrlichkeit, sondern auch die migrationspolitische Orientierungslosigkeit des Zuwanderungslandes offenbart, das er repräsentiert.
Den Diskurs um Zuwanderung und Integration prägen üblicherweise zwei Kategorien: Ökonomie und Moral. Es ist da meist von Fachkräften, Ausbildung, Arbeitsplätzen und ähnlichem die Rede. Und – in einer abstrusen Vermischung mit der Ökonomie – außerdem von moralisch grundierten Begriffen wie Flucht, Schutz, Hilfe.
Und nun kommt Steinmeier und spricht von „Deutsch-sein“ und „Deutsch-Werden“. Beides hat im politischen Migrationsdiskurs der Gegenwart sonst kaum Platz. Zumindest nicht in dem der etablierten Parteien. Im Wahlprogramm von Steinmeiers SPD zum Beispiel kommen „die Deutschen“ kein einziges Mal vor. In dem der CDU nur ganz selten. „Wir schließen niemanden aus und bitten alle, an einer guten Zukunft Deutschlands mitzuwirken“, steht dort. Steinmeiers Parteifreundin, die für Integration zuständige Staatsministerin Aydan Özoğuz, eine der Lieblingsfeindinnen der AfD, hat sogar verkündet, eine „deutsche Kultur“ sei jenseits der Sprache gar nicht existent.
Steinmeier spricht das Wort "kulturelle Assimilation" nicht aus, das bei vielen einen schlechten Klang hat. Aber er spricht von dem, was die Kultur eines Landes, einer Nation in erster Linie ausmacht: Geschichte. Zum Deutsch-Sein gehöre „das Bekenntnis zu unserer Geschichte, einer Geschichte, die für nachwachsende Generationen zwar nicht persönliche Schuld, aber bleibende Verantwortung bedeutet. Die Lehren zweier Weltkriege, die Lehren aus dem Holocaust, die Absage an jedes völkische Denken, an Rassismus und Antisemitismus, die Verantwortung für die Sicherheit Israels.“ Niemand, der bei Verstand ist, wird Steinmeier widersprechen
Aus diesem Deutsch-Sein leitet Steinmeier nun für das „Deutsch-Werden“ die Forderung ab, „unsere Geschichte anzuerkennen und anzunehmen.“ Wer seine Heimat hier suche, könne nicht sagen: „Das ist Eure Geschichte, nicht meine.“
Diese Forderung ist wahrlich anspruchsvoll.